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Analphabetin soll für Visum Deutschtest machen – Klage vor EU-Gericht

Analphabetin soll Deutschtest machen – Klage vor EU-Gericht

Seit Jahren versucht eine Türkin zu ihrem Ehemann nach Deutschland zu ziehen. Behörden verweigern das – weil sie erst einen Deutschkurs absolvieren muss. Sie aber ist Analphabetin. Nun entscheidet der Europäische Gerichtshof. Er könnte Auflagen kippen, die auch Zwangsehen verhindern helfen soll.

Luxemburg/Essen. 

Geht es nach Paolo Mengozzi, Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof, dann würde in Deutschland bald eine hohe Hürde bei der „Heiratsmigration“ fallen. An diesem Donnerstag wird von dem höchsten Gericht in der EU eine Entscheidung zum „Ehegattennachzug“ in Deutschland erwartet. Es klagt eine türkische Ehefrau, der deutsche Behörden seit Jahren untersagen zu ihrem Ehemann in Deutschland zu ziehen, der hier bereits seit 1998 lebt. Sie müsse erst einen Sprachkurs absolvieren, sonst bekomme sie kein Visum. Doch die Frau, die 1987 geboren wurde und mit ihrem Ehemann mittlerweile vier Kinder hat, ist Analphabetin.

In dem Fall allerdings geht es nicht um Analphabeten. Es geht darum, ob Deutschland die Erteilung eines Visums für den Ehegattennachzug bei Bürgern, die aus sogenannten Drittstaaten kommen – zum Beispiel der Türkei – grundsätzlich an Bedingungen knüpfen darf. Seit 2007 sind diese Sprachtests verpflichtend. Auf mindestens „einfache Art“ sollen sich Zuziehende auf Deutsch verständigen können. Das soll „die Integration von Neuankömmlingen in Deutschland erleichtern“, konstatiert Generalanwalt Mengozzi. Und es soll „Zwangsehen bekämpfen“, stellt er fest.

Sprachtest-Pflicht ist für Migranten eine hohe Hürde

„Diese Tests sind ein sehr großes Problem“, sagt Turan Özkücük, Sozialberater für Migranten in Köln. Natürlich seien deutsche Sprachkenntnisse wichtig, sagt Özkücük. Doch gerade auf dem Land gebe es in der Türkei gar keine Angebote. Auch Internet sei dort wenig verbreitet. Zwei bis drei Monate dauere ein Sprachkurs, beschreibt Özkücük, um den geforderten Mindestabschluss, etwa das Goethe Zertifikat „A1“ zu erreichen. Zudem erscheint ihm die Vorschrift wenig sinnvoll: „Zuwanderer werden nach ihrer Ankunft in Deutschland sowieso in einen Integrationskurs geschickt“. Wer ihn nicht antrete, bekomme Probleme mit den Ausländerbehörden.

Testfragen Deutsch-Zertifikat „A1“

Nach einer Statistik der Bundesregierung zum Jahr 2012 hätten durchschnittlich nur 20 Prozent in ihrem Heimatland Zugang zu einem Sprachkurs der Goethe-Institute. In der Türkei sind es nur zehn Prozent. Weltweit nahmen 2012 rund 40.000 Ehe-Frauen oder -Männer an den Sprachtests teil, 27.000 von ihnen fielen bei der Prüfung durch.

Eine Studie zur „Heiratsmigration“ 2013 zeigt, dass der „Ehegattennachzug“ nach wie vor „ein wichtiger Migrationspfad ist“. Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatten im Jahr 2013 insgesamt 49.811 Personen in Deutschland erstmals eine Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug, davon waren 6854 türkische Staatsangehörige.

Die hiesigen Visa-Bestimmungen werden „von etwa einem Drittel der betreffenden Ehegatten als stark oder sehr stark belastend empfunden“, heißt es in der Studie zur Heiratsmigration. Die bei weitem meisten der für die Studie 2500 Befragten aus verschiedenen Ländern hielten deutsche Sprachkenntnisse für wichtig. Zudem hätten nur 6 Prozent der für die Studie untersuchten Personen nach der Einreise „nichts unternommen, um Deutsch zu lernen“. 80 Prozent ziehen etwa zu einem Partner, der bereits seit mehr als zehn Jahren in Deutschland lebt, mit entsprechenden Deutschkenntnissen. Die Hälfte der Partner hätten zudem einen deutschen Pass.

Stillhalteklausel, Unionsrecht und Familienzusammenführung

Es waren Richter am Berliner Verwaltungsgericht, die den Fall vor den EuGH gebracht haben. Dort hatte die türkische Ehefrau geklagt. Für Tayfun Keltek, Vorsitzender des NRW-Integrationsrats, ist es „sehr wichtig, dass jemand den Mut gehabt hat, in dieser Sache vor Gericht zu ziehen“. Er kritisiert die deutschen Vorschriften auch als „beliebig“ – weil sie nur für bestimmte Staaten gelten und etwa EU-Bürger oder US-Amerikaner von der Pflicht zum Sprachnachweis ausgenommen sind.

So geht es in dem Fall vor allem europarechtliche Fragen, ob die deutschen Visa-Vorschriften mit dem „Unionsrecht“ vereinbar sind, konkret: ob die deutsche Sprachtestpflicht gegen die „Stillhalteklausel“ zwischen EU und der Türkei von 1970 verstößt, weil sie eine nachträgliche zusätzlich Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ist.

Beobachter glauben, dass die Europa-Richter die deutsche Regelung zum Ehegattennachzug kippen werden. Sollte das nicht der Fall sein, verweist Generalanwalt Paolo Mengozzi auch auf das Recht auf Familienzusammenführung, das seit 2003 in der EU besteht. Demnach müsse Deutschland betroffenen Ehegatten mindestens eine „Einzelfallprüfung“ gewähren, die bis dato nicht vorgesehen ist. Zu berücksichtigen seien dabei nicht nur, ob minderjährige Kinder zu versorgen sind, sondern auch, ob ein geforderter Sprachkurs vor Ort überhaupt absolviert werden kann – zum Beispiel mit Blick auf die Kosten, den Bildungsstand oder eben Analphabetismus.