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Grönland verzichtet auf Gefängnisse

Grönland verzichtet auf Gefängnisse

Nuuk. 

Das Strafvollzugswesen Grönlands unterscheidet sich markant vom Rest Europas. Denn auf der größten Insel der Welt gibt es keine Gefängnisse mit Mauern, Stacheldraht und Wachtürmen. Selbst verurteilte Mörder und Vergewaltiger kommen in den offenen Vollzug. Es gibt sechs offene Anstalten mit insgesamt 155 Plätzen, in der teilautonomen, zu Dänemark gehörenden Inselnation mit rund 56 000 zumeist indigenen Einwohnern.

In der Stadt Ilulissat am arktischen Meer liegt eine dieser Anlagen. In einem einstöckigen, roten Häuschen mitten im 4600 Einwohner zählenden Ort wohnen 28 Straftäter. Nach der offenen Anstalt in der Hauptstadt Nuuk mit 66 Bewohnern ist dies die zweitgrößte des Landes. Wie im normalen Leben müssen die Insassen ihr Essen selber zubereiten und dazu auch im Ort einkaufen oder auf die Jagd gehen. Eingeschlossen werden die Straftäter nur um 21.30 Uhr. Früh morgens wird das Haus wieder geöffnet. Einige gehen zur Arbeit, andere zu ihrer Familie. Am Ausgang liegt lediglich eine Liste, in die sich die Schwerverbrecher eintragen müssen.

Ungaaq Paulisen ist eine der weiblichen Insassen. Sie hat keine Arbeit, aber täglich rauszugehen ist ihr wichtig. „Dass Leute mich noch immer anlächeln und grüßen, das schätze ich sehr“, sagt sie. Paulisen hat ihre Tochter geschlagen, bedroht und nicht nur das. „Ich habe die Besinnung verloren und meine Tochter gepackt. Plötzlich hatte ich ein Messer in der Hand. Ich weiß nicht mehr, was dann passierte. Danach ging ich einfach aus dem Haus“, sagt sie dem Sender SVT. Sie wurde zu sechs Monaten Unterbringung in der Anstalt verurteilt.

In Grönland liegt der Fokus bei Verurteilungen nicht auf der Strafe, sondern auf dem Straftäter und seiner Verbindung mit der Gemeinschaft. So war es schon immer in der 5000-jährigen Geschichte der Inuit auf Grönland. In erster Instanz sprechen Laienrichter Urteile aus. Sie kennen die Menschen und Verhältnisse vor Ort genau. Immer wieder gewichten sie den Nutzen der Angeklagten für die Dorfgemeinschaft und ihr Potenzial zur Läuterung höher als das Verbrechen selbst.

Eine Art Therapie auf dem Meer

Vor 1976 gab es gar keine Strafanstalten auf Grönland. Wenn jemand ein Verbrechen beging, wurde er mit einem erfahrenen Fischer aufs Meer geschickt, um eine Art Therapie zu erhalten. „Die grönländische Rechtskultur baut traditionell nicht auf Strafe auf, sondern auf Hilfe und Reintegration für die Täter“, sagt Grönlands Strafvollzugsdirektor Hans Jörgen Engbo dieser Zeitung. Er arbeitete zuvor 40 Jahre im dänischen Strafvollzug. „Mit Dänemark oder Deutschland vergleichen lässt sich das aber wirklich nicht. Es herrschen völlig andere gesellschaftliche Grundstrukturen hier, eine dichtere soziale Kontrolle“, sagt er. „Aber wenn die in Dänemark fragen, ob unsere Strafen wirken, antworte ich: ,Ja, das tun sie für uns hier.’“