Mehr als 500 Kinder verschwanden aus einem griechischen Heim. Es waren durchweg Roma. Der Skandal fiel nur durch Zufall auf und erste Ermittlungen verliefen im Sand. Die Uno kritisierte nun Jahre später die Behörden und bringt neue Bewegung in den mysteriösen Fall.
Athen.
Die meisten griechischen Autofahrer erinnern sich noch an sie: die Straßenkinder, die in den 1990er-Jahren in Athen und anderen Städten die Straßenkreuzungen bevölkerten. Sprang die Ampel auf Rot, schwärmten sie aus, um mit Schwämmen und Gummiwischern die Scheinwerfer und Windschutzscheiben der wartenden Autos zu reinigen.
Viele Kinder, die zu klein waren, um an die Windschutzscheiben überhaupt heranzukommen, streckten den Fahrern auch einfach nur stumm ihre kleinen, vor Schmutz starrenden Hände entgegen, in der Hoffnung auf ein paar Münzen. Bei den Kindern handelte es sich überwiegend um Roma aus dem benachbarten Albanien.
Nach dem Sturz der stalinistischen Diktatur 1990 brachen in Albanien die staatlichen Strukturen zusammen, das Land war über Jahre hinweg von Anarchie und Armut geprägt. Hunderttausende Albaner kamen in den 90er-Jahren nach Griechenland, in der Hoffnung auf Arbeit. Unter den Migranten waren auch viele Kinder, die teils mit ihren Eltern kamen, oft aber auch auf eigene Faust oder verschleppt von Menschenhändlern, die sie wie Sklaven gnadenlos ausbeuteten.
Eltern verkauften Kinder an die albanische Mafia
Aktenkundig sind auch viele Fälle, in denen Roma-Kinder von den eigenen Eltern an die albanische Mafia verkauft wurden. Die neuen Herren ließen die Kinder dann in Griechenland für sich arbeiten. Ein lohnendes Geschäft für die Sklavenhalter, denn der Tagesverdienst eines „Ampelkindes“ belief sich auf umgerechnet bis zu 150 Euro.
Lange sahen die griechischen Behörden dem Elend der Straßenkinder untätig zu. Ihre Zahl wurde auf 5000 bis 10 000 geschätzt. Erst 1998 entwickelten sie ein Programm zur Betreuung und sozialen Rehabilitierung der Kinder, auch unter dem Druck der UNO.
661 Straßenkinder wurden im Athener Kinderheim St. Barbara untergebracht. Den offiziellen Aufzeichnungen zufolge wurden 159 von ihnen wieder mit ihren Familien in Albanien zusammengeführt. Das Schicksal von 502 Kindern ist aber ungeklärt. So unglaublich es auch klingt: Als das Programm in St. Barbara 2002 zu Ende ging, waren sie einfach verschwunden.
Nachforschungen wurden eingestellt
Zwei Jahre später leitete der griechische Ombudsmann auf Druck einer Schweizer Menschenrechtsorganisation Ermittlungen ein, um den Verbleib der Kinder zu klären. Die Nachforschungen verliefen jedoch im Sande und wurden 2005 eingestellt.
Im vergangenen Jahr griff das UNO-Komitee für die Rechte von Kindern (CRC) die Vorgänge erneut auf und kritisierte in einem Bericht ernste Versäumnisse der griechischen Behörden. Nach einer parlamentarischen Anfrage einer linken Oppositionsabgeordneten scheint jetzt wieder Bewegung in den Fall zu kommen. Die Regierung kündigte eine Untersuchung an, die Athener Staatsanwältin Panagiota Fakou leitete ein Ermittlungsverfahren ein.
In die Hände der Mafia oder der Organhändler
Experten bezweifeln aber, dass sich das Schicksal der vermissten Kinder nach so langer Zeit noch klären lässt. Manche sind wahrscheinlich damals einfach ausgerissen und haben sich nach Albanien durchgeschlagen. Andere fielen womöglich erneut der Mafia oder, noch schlimmer, Organhändlern in die Hände und sind nicht mehr am Leben. In den albanischen Städten Fier und Durres soll es seinerzeit Privatkliniken gegeben haben, in denen Kinder getötet und ihre Organe verkauft wurden.