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Die Golden Gate Bridge ist das Goldene Tor ins Jenseits

Die Golden Gate Bridge ist das Goldene Tor ins Jenseits

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Foto: AFP
Die berühmte Brücke in San Francisco fasziniert Millionen Menschen. Und lockt Verzweifelte aus aller Welt. Zum 75. Geburtstag der Golden Gate kehrt eine alte Frage zurück: Warum macht man es Selbstmördern hier so leicht?

San Francisco. 

Als Kevin Hines in letzter Sekunde die Wasseroberfläche durchstößt, kehrt das Leben mit einer doppelten Portion Sarkasmus in seinen zerschmetterten Körper zurück. „Ich bin nicht tot“, durchzuckt es den damals 18-Jährigen am Morgen des 25. September 2000, „und jetzt frisst mich ein Hai.“ Dass der „Hai“, den Hines an der vom Aufprall mit 120 Stundenkilometern angebrochenen Wirbelsäule zu spüren glaubte, in Wahrheit eine Seerobbe war, gilt dem seit kurzem verheirateten Kalifornier bis heute als Beweis einer göttlichen Fügung. „Ich sollte nicht sterben.“ Hines war von der Golden Gate Brücke in San Francisco gesprungen. Einer von offiziell 1558 „Jumpern“ seit 1937. Das rötlich-braune Technik-Wunderwerk ist weltweit die erste Adresse für Selbstmörder. Warum? Weil es so verdammt einfach ist.

Mary Currie möchte aber an diesem sonnig-kühlen Mai-Morgen oben am Südende der Brücke am liebsten gar nicht darüber reden. „Nur europäische Journalisten bringen das Thema immer wieder auf“, sagt die Sprecherin vom „Golden Gate Bridge, Highway and Transportation District”, der Gesellschaft, die das Brücken-Areal bewirtschaftet, entnervt. „Dabei ist unser neuer Besucher-Pavillon mit Multimedia-Angeboten doch viel interessanter.“

Wenn Paul Muller, Gründungsmitglied der „Bridge Rail Foundation“ so was hört, geht ihm der Hut hoch. Die Stiftung, die sich dafür einsetzt, das ikonenhafte Bauwerk mit einem Auffangnetz auszustatten und so die Suizid-Quote zu senken, hat sich für die am Sonntag, 28. Mai, beginnenden Feierlichkeiten zum 75. Geburtstag der „Red Lady” etwas sehr eindringliches einfallen lassen. Auf den „Crissy Fields“, einer beliebten Hunde- und Freizeitsport-Wiese unterhalb der Brücke, werden Schuhe ausgestellt. Schuhe von denen, die anders als Kevin Hines und zwei Dutzend weitere Menschen den fünf Sekunden dauernden freien Fall aus 67 Meter Höhe nicht überlebten.

John Bateson hat sich um die Toten gekümmert wie kein anderer. In seinem neuen Buch „Der letzte Sprung“ schildert der Autor Schicksale, die einem die Luft nehmen. 1993 warf der verzweifelte Vater Steve Page seine kleine Tochter Kellie über die nur 1,20 Meter hohe Brüstung; und sprang hinterher. „Warum lassen wir es zu, dass dies hier ein unverändert attraktiver und leicht zu erreichender Ort der Selbstzerstörung bleibt?“, fragt Bateson. Warum tun sich die Entscheider so schwer damit zu tun, was an der All-American-Brücke in Akron/Ohio, der Aurora-Brücke in Seattle/Oregon oder der Cold Spring Brücke bei Santa Barbara/Kalifornien längst geschehen ist? Dort wurden die technischen Barrieren so verändert, dass kaum mehr ein Leben verloren geht.

Bis US-Präsident Franklin D. Roosevelt am 27. Mai 1937 mittels telegrafischem Knopfdruck aus dem Weißen Haus in Washington grünes Licht für den ersten Personen- und Straßenverkehr über den Sund der Bay von San Francisco gab, waren Todessprünge an der Golden Gate allenfalls berufsbedingt. Während der fünfjährigen Bauphase verunglückten mindestens 11 der insgesamt 1500 Arbeiter, die der deutschstämmige Chef-Ingenieur Joseph Baermann Strauss einsetzen ließ, tödlich. 19 weiteren Brückenmalern und Kabel-Installateuren rettete ein stählernes Auffangnetz das Leben. Die Männer gründeten den „Half Way to Hell“-Klub. Auf dem halben Weg zur Hölle.

Harold B. Wobber machte den Anfang. Der 47-jährige Kahnführer und Erste-Weltkrieg-Veteran war im August 1937 der erste Mensch, der die Balustrade überwand und absichtsvoll in den Tod sprang. Bereits 1973 war dann die 500er Marke erreicht. Lange vor der 1000er Schallgrenze 1995 hatten „Chronicle” und „Examiner”, die örtlichen Zeitungen, auf „Druck von oben“ die Berichterstattung über die „Jumper“ (Springer) eingestellt. „Nichterwähnen”, sagt ein Redakteur nur, „sollte Nachahmer abwehren.” Funktioniert bis heute nicht.

Die Folgen des Verschweigens sind immens. Seit fünf Jahren liegt die Zahl der amtlich beurkundeten Todesfälle konstant bei über 30 im Jahr.

Zählt man „etwa 100 Fälle“ im Jahr hinzu, in den nach Berichten von Denis Mulligan, General-Manager der Brückenbehörde, in letzter Minute durch wachsame Polizisten wie Kevin Briggs der „letzte Sprung“ verhindert werden konnte, kommt eine verheerende Statistik zum Vorschein: Alle drei Tage schaut ein Mensch auf der Golden Gate Brücke in den Abgrund.

200 Lebensmüden zurückgeholfen

Briggs hat über 200 Lebensmüden zurückgeholfen. Mit drei Fragen: 1) Wie geht es Ihnen heute? 2) Was ist Ihr Plan für morgen? 3) Wenn Sie keinen Plan haben, lassen Sie uns einen machen. Wenn er nicht funktioniert, kommen sie übermorgen wieder. Nicht alle hörten Briggs zu.

Wer sind sie?

Die „Jumper“, hat Autor Bateson recherchiert, sind zu 80 Prozent Weiße, zu 75 Prozent Männer, zu 60 Prozent Singles und im Durchschnitt 41 Jahre alt. Die wenigsten verschwinden in der anonymen Dunkelheit. 75 Prozent aller Todessprünge finden demonstrativ am hellichten Tag statt.

2004 ließ sich der ganz in Schwarz gekleidete 34-jährige Glenn Sprague wie ein Turmspringer rücklings in den Tod fallen. Unfreiwillige Augenzeugen plagen bis heute Alpträume. Grund genug zu handeln? Nicht in San Francisco.

Über Jahrzehnte gelang es dem mit Honoratioren besetzten Aufsichtsrat der Brückenbehörde zu verhindern, dass der niedrigen Brüstung technisch nachgeholfen wird. Vor allem aus, Achtung!, ästhetischen Gründen. Mike Kerns, der für die Weingegend Sonoma County in dem Gremium sitzt, personifiziert das Hadern: „Ich bin unschlüssig. Wenn jemand eine Barriere konstruieren kann, die wir uns leisten können und die das Brückenwerk nicht verschandelt, würde ich sagen: Lasst es uns probieren.“ Stand der Dinge: Bis heute haben es die Verantwortlichen nicht geschafft, nach zermürbenden Diskussionen und Machbarkeitsstudien die nötigen 45 Millionen Dollar für die Nachrüstung aufzutreiben.

Obwohl alle das kennen, was Ken Holmes in Fort Baker 33 Jahre lang gesehen hat, wenn die Wasserpolizei dem Code-Wort „10-31“ folgend wieder eine vom Aufprall furchtbar entstellte Leiche aus der starken Strömung zwischen Bay und Pazifik gezogen hatte. Der ehemalige Gerichtsmediziner von Marin County ist ein glühender Anhänger einer Auffangkonstruktion. „San Francisco darf nicht mehr die weltweite Top-Destination für Selbstmörder sein. Es muss endlich was passieren.“

13 Notruf-Knöpfe sind an der Brücke angebracht

Die blauen Notruf-Knöpfe, von denen 13 Stück auf der Brücke angebracht sind („Es gibt Hoffnung, rufen Sie an!“) hält selbst Brückensprecherin Mary Currie für ein Placebo. „Sie werden so gut wie nie benutzt.“ Dass echte Hilfe, also ein Auffangnetz, am Ende Wirkung zeigt, hat Richard Seiden, Professor der gegenüber der Brücke gelegenen Universität in Berkeley, indirekt nachgewiesen. Von 515 Menschen, denen der letzte Sprung am Golden Gate ausgeredet werden konnte, waren 95 Prozent über 25 Jahre nach dem Suizid-Versuch am Leben.

Kevin Hines hätte gerne zu ihnen gezählt. „In der Sekunde, als ich das Geländer losließ, wusste ich, dass es ein schwerer Fehler war. Ich wollte nicht sterben.”