Ruhrgebiet. Kultur ist etwas, das alle angeht und jeden Tag neu entsteht. Für die Menschen im Ruhrgebiet ist Kultur überall und Alltag, im Beutel, auf dem Platz oder im Blumenbeet. Eine Spurensuche in der Kulturhaupstadt 2010.
Kultur ist… Ja, was eigentlich? Und wo? Eine Suche bei den Menschen im Ruhrgebiet, ab morgen: den Bürgern der Kulturhauptstadt.
Ein Kulturbeutel, sagt Michaela Lüke in Bochum, sei „eine Anschaffung fürs Leben”, und vielleicht ist das ein Grund, warum es ihn nur noch selten gibt bei der Parfümerie Pieper im Revier: Es hat schon jeder einen. Hinein kommt, was sonst im Regal steht, sagt die Filialleiterin: Deo, Abdeckcreme, Nageletui, Lippenstift, „aufklappen, alles rein, und ab geht die Reise”. Das Pflegeritual „gehört zur Kultur, das gab es immer schon und wird es immer geben”, und macht man sich nicht auch hübsch für einen Theater-Abend? „Mehr Kultur gibt’s ja gar nicht als hier”, sagt die 37-Jährige, „allein die Museen und die älteren Sachen, die übriggeblieben sind”.
Ein Kulturschock
Als sie das Stahlwerk schlossen, „am 28. Mai ’93 und damit auch unsere Lebensader”, da stand Karl Niessen nach 40 Jahren vor der Tür, „Schluss!”, hat er gesagt und wollte nichts mehr zu tun haben mit der Gießerei. Aber dann machten sie aus Hattingens Henrichshütte ein Museum, ein Kulturschock war das, aber „woher”, sagt der alte Obermeister, „soll die Menschheit sonst noch wissen, was Stahlerzeugung ist”. Also steht er jetzt wieder an den Öfen, die Hände so gegerbt wie seine lederne Schürze: „Sie müssen fürs Ruhrgebiet alles tun.” Karl Niessen gießt Figürchen und manchmal Ersatzteile, „was früher Tonnen waren, sind heute Gramm. Aber es macht immer noch Spaß, im Sand zu spielen.” Er ist bald 70 und selbst ein Stück Industriekultur.
Kartoffel oder Kohlrabi
In diesen Tagen müssen sie schon wieder entscheiden: Kartoffel oder Kohlrabi? Bei den Pflanzkulturen hat jeder Kleingärtner seine eigene Fantasie. Und mit den vielen Migranten werden auch die Beete bunter, sagt Ulrich Heymons vom KGV Sterkrade 1916, der ältesten Anlage Oberhausens, gleich an der Autobahn. Neulich hatten sie einen italienischen Abend, auch schon einen polnischen, und die Kasachen: „Solche Kameraden!” Also, deren Tomaten. Die Gartenkultur hat sich verändert, früher war ein Drittel Nutzgarten Pflicht, heute suchen die Leute Freizeit und Erholung; die Städte im Revier wären „nicht denkbar ohne ihre Kleingärten”. Das Grün! Und, natürlich, das Vereinsleben.
Vielleicht spielt Leverkusen schöner, aber im Ruhrgebiet „ist mehr Einsatz, mehr Leidenschaft”, das ist hier die Spielkultur. Richard Weber ist erst 18, aber schon zwölf Jahre auf Schalke, und „Kämpfen, Laufen, das wird einem hier beigebracht”. Und dann sind auch die Fans „immer für die Spieler da, wenn die alles geben”. Das ist das Besondere in Gelsenkirchen und in Dortmund auch: die Verbindung zu den Fans und dass die Stadien immer ausverkauft sind, erst recht beim Derby. „Fußball gehört zur Kultur!” Und auch, dass Richard mit Spielern so vieler verschiedener Nationen zusammen spielt, „die leben hier einen Traum”.
Die beste Curry-Wurst von Essen
Curry-Murat ist in Katernberg aufgewachsen, „direkt unter dem Förderturm, der jetzt das Symbol ist für die Kulturhauptstadt”. Er hat bei Plus gelernt, eine Trinkhalle gehabt und jetzt diesen Imbiss, von dem die Leute sagen: Er grillt die beste Currywurst von Essen – aber Murat Özyurt weiß es nicht. Seine Frau sagt, Schweinefleisch ist Sünde, aber „es steht nicht im Koran, dass man sie nicht verkaufen darf”, und „Currywurst gehört nun mal zum Ruhrpott”. Die Leute bestellen „Asi-Platte” bei Murat (30) und „Pommes Schranke”, er grillt auch „Bremsklötzchen” und findet das alles „typisch Ruhrgebiet”: „Das ist die Esskultur hier, man hat keine Zeit und holt sich mal eben ’ne Schale.” Nur Murat hat noch nie probiert.
Am Rande des Systems
Moana Köhring findet, das Ruhrgebiet sei „ein gutes Pflaster für Kultur: viele Leerstände”, solche Orte hat die junge Künstlerin früher gern bespielt. Allerdings musste sie lernen: Kultur sei „leider ein Wirtschaftssystem”, in dem man mitspielt oder nicht. Moana mag nicht mitspielen, es ist ihr „nicht geheuer”, sie möchte lieber frei sein und erfinderisch. Die 30-Jährige macht ein Programm aus Theater und Lesung, sie hat „am Rande des Systems” ihren Platz gefunden: „Die Subkultur ist ein wichtiger Bestandteil der Kultur, keine Frage der Qualität.” Nur ist es dort „schwierig, sich zu positionieren, wahrgenommen zu werden”. Der Verein, dem Moana vorsteht, heißt „No-budget-arts”, er vermietet Räume in einem Bochumer Bunker „an unetablierte Künstler”. Manchmal wünschte Moana, „es wäre einfacher, zu machen, was man eigentlich macht”.
Im normalen Meisenleben kommt der Mensch nicht vor
Morgens gegen halb zehn kriegen die Fischreiher Futter. Sie kommen aus den Ruhrauen Mülheims, landen im Duisburger Zoo und warten im Gehege der Bongos aus Zentralafrika: Der Marabu kriegt schließlich auch Fisch! Die Reiher wissen das, sie nähern sich der Zivilisation wie die Möwen auf den Müllhalden, die Ratten in der Kanalisation und die Meise im Park. „Im normalen Meisenleben kommt der Mensch nicht vor”, sagt der Zoologe Jochen Reiter, aber wo manchen Tieren der Lebensraum unter den Pfoten zubetoniert wird, bleibt ihnen bloß die Anpassung: Kulturfolger sind sie. Überhaupt werde Kultur ja immer nur den Menschen zugesprochen, sagt Reiter, aber in der Tierwelt gebe es sie auch: „Rituale, Gewohnheiten, Traditionen weiterzugeben, das ist für mich Kultur.” Und eigentlich ist auch Jochen Reiter selbst ein Kulturfolger: ein Niederbayer im Ruhrgebiet. „Man passt sich an.”
Suche nach Sinnlichkeit
Alle Menschen, sagt in Dortmund der Intendant des Konzerthauses, Benedikt Stampa, seien auf der „Suche nach Sinnlichkeit”: „Das ist auch ein Ausdruck des Kultur-Wollens.” Und weil alle wollen, sträubt sich Stampa ein wenig, die Hochkultur zu definieren; er versucht ihn ja aufzubrechen jeden Tag, diesen Begriff, der „gern mit Kunst gleichgesetzt” wird. Denn: „Kultur ist etwas, das alle angeht, worin sich jeder wiederfindet. Kultur wird jeden Tag von jedem Menschen neu geschaffen.”
Deshalb also war nirgends ein Kulturbanause zu finden. Es gibt ihn nicht. Es kann ihn nicht geben. Und schon gar nicht in der Kulturhauptstadt.