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Empfehlung Hauptschule – Durchgekämpft bis zum Abitur

Empfehlung Hauptschule – Durchgekämpft bis zum Abitur

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Foto: Funke Foto Services
Sie hatten nur eine Empfehlung für die Hauptschule, dennoch stehen nun diese fünf Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Bockmühle in Essen im Abitur. Ihren Lehrern sind sie heute dankbar.

Essen. 

Geschafft, die zweite Abi-Klausur haben sie soeben hinter sich gebracht. Die fünf Schüler der Gesamtschule Bockmühle in ­Essen-Altendorf sind erschöpft, aber sichtlich zufrieden.

Dass sie bis hierher gekommen sind, ist ­keine Selbstverständlichkeit, denn ihre Grundschullehrer haben ­weder Milena Henscheid (19) noch Ann-Katrin Schermuly (20), Patrick Beka (19), Dilan Güden (19) und Osman Ayoub (19) das Abi zugetraut. Der WAZ erzählten die Schüler, wie sie es trotz aller Schwierigkeiten geschafft haben.

Osman Ayoub: In der ersten und zweiten Klasse war ich ganz gut. Dann sackte
ich ab. Ich hatte schlechte Freunde. Komm, lass uns lieber spielen und die Schule schwänzen, sagten sie. Ich wollte dazu gehören, cool sein. Ich ­bekam dann nur die Hauptschul­empfehlung, obwohl ich unbedingt auf die Realschule wollte. Ich ging zur Gesamtschule Bockmühle, in der 5. Klasse hatte ich plötzlich einen Notenschnitt von 1,7. Wir hatten eine tolle Lehrerin, Fräulein Blum, die war streng aber herzlich und gerecht. Als sie in Pension ging, bekamen wir einen Lehrer, der sich nicht durchsetzen konnte. Man kannte uns nur als Terror­klasse. Mit den Noten ging es bergab. Meine Eltern haben viel Druck gemacht: Du musst das schaffen, Du bist schlau, aber faul. Ich wollte dann die Oberstufe durchziehen, etwas aus meinem Leben machen und meine Eltern nicht enttäuschen. Mein Weg war gut, man kann stolz sein, es so weit geschafft zu haben. Den Lehrern bin ich im Nachhinein dankbar, ich hatte immer das Gefühl, dass sie wollen, dass wir es schaffen. Sie haben uns gefordert, aber waren auch da, wenn wir Probleme hatten. Nach dem Abi will ich eine Ausbildung machen, etwas Soziales, mit Jugendlichen arbeiten.“

Dilan Güden: „Ich wollte ­unbedingt an diese Schule, weil auch meine ­Geschwister hier waren. Wir sind sechs Kinder zu Hause, fünf haben das Abi geschafft. An der Grundschule war ich nicht sehr stark, hatte viele Vieren. Ab der Fünften hatte ich richtig gute Noten. Wir hatten gute Klassen­lehrerinnen, die waren nett und haben sich gekümmert. Nach der zehnten Klasse wollte ich eigentlich abgehen, doch Lehrer und ­Eltern meinten, Du schaffst das. Ja, ich bin schon stolz. Jetzt will ich Steuerfachangestellte werden.“

Ann-Katrin ­Schermuly „Mein Schulweg war echt steinig. In der Grundschule war ich zuerst richtig schlecht, ich war hyper­aktiv, musste die erste Klasse ­wiederholen. Dann ging es so. Ich hatte großen Druck von meiner ­Familie. Meine Mutter sagte, Du schaffst das eh nicht. Ab der ­neunten Klasse bin ich richtig gut geworden, da haben wir eine neue Lehrerin bekommen, die hat an mich geglaubt. Plötzlich habe ich angefangen zu lesen und zu lernen und bekam bessere Noten. Meine Mutter dachte, ich meine das nicht ernst. Aber ich wollte weiter und habe die Oberstufe gepackt. Ich habe schon einen Ausbildungsplatz als Verfahrensmechanikerin.

Patrick Beka „Die Grundschule fing richtig schlecht an. Ich konnte nicht ­ruhig sitzen bleiben. Immer wenn etwas passierte, hieß es, der Patrick war’s. Ich hatte echt Probleme, meine Eltern mussten dauernd antanzen. In der 5. Klasse an der Bockmühle hatte ich auf einmal eine Eins in Mathe! Dann ging es auf und ab. Ich hatte viele Probleme mit meinen Eltern, ich bin von zu Hause abgehauen, da war ich 15. Meine Mutter hat das Sorgerecht abgegeben, aber mein Vater lebt an der Nordsee. Ich wusste nicht, wo ich hin sollte, ­habe im Obdachlosenasyl geschlafen, kam ins Kinderheim. Irgendwann habe ich meinen Lehrer ­angerufen, ich brauchte Hilfe. Er hat sich um mich gekümmert. Ich wollte unbedingt die Schule weitermachen. Der Lehrer hat extrem viel für mich getan. In der zehnten Klasse habe ich mich richtig ran­gesetzt, weil ich in die Oberstufe wollte. Ich hatte keinen Rückhalt von der Familie, aber jetzt mache ich Abitur, was ich nie gedacht hätte. Danach mache ich eine Ausbildung als Versicherungskaufmann.

Die Bezeichnung „allge­meine Hochschulreife“ legt nahe, dass man mit dem Abi überall alles studieren könne. Diese Vorstellung ist allerdings Geschichte. Sieht man einmal von den besonders nachgefragten NC-Fächern wie Medizin und Psychologie ab, ­waren bis weit in die 1980er-Jahre hinein nur eine Handvoll Studiengänge „zulassungsbeschränkt“. ­

Inzwischen aber hat mehr als jeder zweite Studiengang eine Zulassungsbeschränkung. Eine gute Note im Abi ist also wichtiger denn je.

Die gute Nachricht: Die Schüler schaffen immer bessere Noten im Abi. Im Durchschnitt erreichten sie im vergangenen Jahr in NRW eine 2,47, was etwa dem Bundesschnitt entspricht. 2002 war es in NRW „nur“ eine 2,68.

Diesen Trend zu besseren Noten gibt es in ganz Deutschland. Allerdings sind die Unterschiede zwischen den Bundesländern groß. In Thüringen war die Abi-Note 2014 mit 2,16 ­besonders gut, in Niedersachsen (2,61) klar schlechter.

Das Abitur sei aber keineswegs leichter als ­früher, sagt der Dortmunder Bildungsforscher Ernst Rösner. „Die Abiturienten heute sind anders, sie können mit Fremdsprachen und Medien besser umgehen, anderes, wie der Umgang mit der deutschen Sprache, liegt ihnen weniger.“

Abi und Fachabi sind heute längst nicht mehr die Ausnahme. Etwa 40 Prozent eines Jahrgangs in NRW erreichen die Hochschul­reife. In den 1970er-Jahren war das Abi noch ein Elite-Abschluss für wenige. Damals schaffte in NRW nur jeder siebte Schüler die „Reifeprüfung“. Die Chancen für Schüler, aber auch für Berufsqualifizierte, ein Studium beginnen zu können, sind also im Laufe der Jahre deutlich besser geworden.