Etwa drei Millionen Deutsche leiden an einer ständigen Augenfehlstellung. Bei rechtzeitiger Behandlung sind die Heilungschancen groß.
Essen/Freiburg .
Bis zu 80 Prozent der Bevölkerung schielen latent. Bei starker Überanstrengung der Augen, etwa durch lange Arbeit vor dem Computerbildschirm, bei Müdigkeit oder infolge von Alkoholgenuss, können sie diese nicht mehr richtig kontrollieren. „Sie bekommen Kopfschmerzen und sehen manchmal sogar Doppelbilder“, sagt Professor Joachim Esser, Augenarzt in der Sehschule und Sehbehindertenambulanz des Uniklinikums Essen. Vier Prozent der Deutschen hingegen leiden unter einem ständigen Schielen, das angeboren oder erworben sein kann. Doch nicht immer ist der Strabismus, wie das Schielen in der medizinischen Fachsprache heißt, offensichtlich. Und genau hier liegt ein Problem: Denn auch wenn eine angeborene Augenfehlstellung nur schwach ausgeprägt ist, sollte sie bereits im Kindesalter behandelt werden.
Was passiert beim Schielen?
Gesunde Augen stehen parallel und nehmen zwei Bilder wahr, die sich perspektivisch nur gering voneinander unterscheiden. Vom Gehirn werden sie zu einem dreidimensionalen Stereo-Seheindruck verarbeitet. Infolge einer Schielstellung können die beiden Bilder nicht mehr auf diese Weise verrechnet werden. „Das Sehsystem hat einen Sensor, der registriert, ob die Augen parallel stehen oder nicht“, erklärt Professor Wolf Lagrèze, Spezialist für Neuroophthalmologie und Kinderaugenheilkunde an der Universitätsklinik Freiburg. „Wenn dies nicht der Fall ist und wir doppelt sehen, weiß das Gehirn, dass mit der Augenstellung etwas nicht stimmt – und erteilt den Augenmuskeln einen Befehl, die Position zu korrigieren.“ Diese Funktion muss der Mensch jedoch erst innerhalb des ersten Lebenshalbjahres erlernen.
Besteht von Geburt an eine Schielstellung, wird die Fusion der beiden Bilder nicht erlernt und der Seheindruck eines Auges unterdrückt. Räumliches 3-D-Sehen ist dann unmöglich. „Was man diesbezüglich in den ersten sechs Lebensmonaten nicht lernt, kann man später nicht nachholen“, sagt Lagrèze. In seltenen Fällen kann die Bildfusion beider Augen auch durch angeborene organische Augenkrankheiten gestört sein. Unabhängig vom Lebensalter können ferner Unfälle oder neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Tumore im Schädelhirnbereich zu einem Strabismus führen. Solche Patienten, die erst als Kinder, Jugendliche oder Erwachsene zu schielen beginnen, haben das räumliche Sehen noch erlernt und leiden deshalb unter Doppelbildern.
Wann sollten Eltern reagieren?
„Schielen bei Kindern können wir heute so gut behandeln, dass fast immer eine komplette Heilung möglich ist“, sagt Joachim Esser. Aber: „Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.“ Bei vielen Betroffenen ist die Fehlstellung so ausgeprägt, dass ein Augenarzt aufgesucht wird. Doch auch ein Kind, das vermeintlich einwandfrei funktionierende, weil normal ausgerichtete Augen hat, kann von Strabismus betroffen sein
Hat ein Elternteil selbst dauerhaft geschielt, empfiehlt Esser, auch das Kind untersuchen zu lassen. Außerdem sollten Eltern aufmerksam werden, wenn sie bei ihrem Kind Folgendes beobachten: Es hat Schwierigkeiten damit, sich im Raum zu orientieren. Es stolpert regelmäßig ohne ersichtlichen Grund oder greift ins Leere, wenn es einen Gegenstand in die Hand nehmen will. Es kneift die Augen oft zusammen und ist besonders lichtempfindlich. Oder es hält den Kopf auffällig schief, obwohl Muskulatur und Knochenbau an Hals und Rücken vollkommen gesund sind.
Wie werden schielende Kinder behandelt?
Da eine frühe Diagnose die Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung ist, sind die entsprechenden Tests längst auf kleine Kinder abgestimmt. So können sich Sehfehler schon bei Säuglingen feststellen lassen. Beim frühkindlichen Schielsyndrom hängt die Behandlung davon ab, ob ein „Lieblingsauge“ gewählt wurde – mit der Folge, dass das andere Auge amblyop, also schwachsichtig geworden ist – oder ob beide Augen abwechselnd benutzt werden. „Bei einer Amblyopie wird das Lieblingsauge etwa zwei bis sechs Stunden pro Tag mit einem Pflaster verdeckt, damit das schwache Auge gezielt trainiert werden kann“, sagt Wolf Lagrèze. Besteht insgesamt eine Sehschwäche, erhält das Kind zudem eine Brille.
In den meisten Fällen kommt zusätzlich eine Operation am Augenmuskel zum Einsatz. Diese kann dazu dienen, das räumliche Sehen wiederherzustellen, etwa beim sogenannten normosensorischen Spätschielen, einer Erkrankung im Kindesalter, durch die das erst erlernte räumliche Sehen wieder verlernt wird.
Außerdem kann die Augenmuskel-OP sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter das Erscheinungsbild verbessern. Lagrèze betont den Wert der OP für die Lebensqualität der Betroffenen: „Nachgewiesenermaßen werden schielende Menschen sozial benachteiligt.“ Die OP sollte nicht vor dem fünften oder sechsten Lebensjahr erfolgen, sagt Joachim Esser, denn das Kind müsse reif genug sein, um konsequent bei den Untersuchungen mitzumachen und seine Brille zu tragen. Der Eingriff selbst sei „vergleichsweise ungefährlich“, so Lagrèze. Nicht selten jedoch sei im weiteren Verlauf eine Nachkorrektur erforderlich, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.
Was hat es mit dem Phänomen Babyschielen auf sich?
as viele Eltern bei ihren Babys feststellen – eine schwankende, nach innen gerichtete Drehbewegung der Augen –, ist nicht unbedingt ein Hinweis auf eine Fehlfunktion. „Das Gehirn muss erst lernen, wann es die Augenmuskeln anweisen soll, die Augenposition zu korrigieren. Und um zu lernen, muss man auch Fehler machen“, sagt Professor Wolf Lagrèze. Gelegentliches Schielen kann mit diesem Prozess in den ersten vier bis sechs Lebensmonaten einhergehen. Etwa 70 Prozent aller Kinder zeigen das sogenannte Babyschielen. Tritt es dauerhaft auf, ist ein Arztbesuch notwendig.