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Experten zweifeln am Sinn des Inzest-Verbots

Experten zweifeln am Sinn des Inzest-Verbots

Inzest unter Geschwistern bleibt in Deutschland strafbar. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am Donnerstag in Straßburg, dass die Verurteilung eines Mannes aus Leipzig wegen Geschlechtsverkehr mit seiner leiblichen Schwester nicht gegen Menschenrechte verstieß.

Brüssel/Essen. 

Patrick (35) und Susan (27) liebten sich, obwohl sie Geschwister sind. Aus ihrer Beziehung gingen sogar vier Kinder hervor. Patrick musste dafür ins Gefängnis. Aber er fühlt sich im Recht. Nicht nur ihn treibt die Frage um: Warum nur ist das verbotene Liebe? Der EU-Gerichtshof für Menschenrechte kippte das deutsche Inzestverbot gestern jedenfalls nicht.

Welche Schicksale stehen hinter diesem Fall?

Traurige. Patrick S. hatte Susan K. erst kennengelernt, als er erwachsen war. Zuvor wuchs er im Kinderheim und in Pflegefamilien auf – sein Vater war gewalttätiger Alkoholiker. Lange wusste Patrick S. nicht, dass er eine jüngere Schwester hat. Sie wurde kurz vor der Scheidung der Eltern geboren. Erst im Jahr 2000 erfuhr er von seiner Schwester – als er seine Mutter nach etwa zwei Jahrzehnten wiedersah.

Als seine Mutter Ende 2000 starb, rückten der erwachsene Bruder und die minderjährige Schwester eng zusammen. Sie fühlten sich „von der ganzen Welt verlassen“. Zwischen 2001 und 2005 bekamen sie vier Kinder. Danach ließ sich Patrick S. sterilisieren. Die drei älteren Kinder kamen zu Pflegefamilien, das jüngste – eine Tochter – blieb bei Susan K.. Zwei der Kinder sind behindert. Nach mehreren Vorstrafen wegen Inzests verur­teilte das Landgericht Leipzig Patrick S. Ende 2005 zu einer Freiheitsstrafe. Dagegen legte er Verfassungsbeschwerde ein.

Wie groß ist das medizinische Risiko bei Inzest?

Relativ groß. Der Humangenetiker Peter Propping (Uni Bonn) sagt: „ Die Kinder, die aus einer inzestuösen Verbindung von Geschwistern hervorgehen, haben ein deutlich erhöhtes Risiko für rezessiv erbliche Krankheiten. Wenn beide Eltern gesund und nicht miteinander verwandt sind, dann haben deren Kinder ein Basisrisiko von 3 bis 5 Prozent für irgendeine angeborene Krankheit. Dieses Basis-Risiko verdoppelt sich in etwa, wenn es sich bei den Eltern um Cousin und Cousine handelt. Bei Verbindungen zwischen Geschwistern steigt das Risiko auf 20 bis 30 Prozent. Dieser Anstieg beruht hauptsächlich auf rezessiv erblichen Krankheiten, denn Kinder aus einer inzestuösen Verbindung sind für 25% ihrer Gene reinerbig. Das bedeutet allerdings nicht, dass ein betroffenes Kind aus einer solchen Verbindung immer schwer erkrankt ist. Die Erkrankung kann alle Schweregrade aufweisen. In vielen Fällen handelt es sich um geistige Beeinträchtigungen. Im Rahmen einer vorgeburtlichen Diagnostik sind die Erkrankungen kaum zu erkennen. Es gibt etwa 5000 verschiedene rezessiv erbliche Krankheiten, die kann man unmöglich während einer Schwangerschaft überprüfen. Geistige Beeinträchtigungen fallen bei einer vorgeburtlichen Ultraschalluntersuchung gar nicht auf. Humangenetiker werden mit Inzest nur selten konfrontiert. Dies könnte bei Rechtsmedizinern anders sein. Ich war 25 Jahre lang Institutsleiter und hatte in dieser Zeit mit etwa fünf Fällen zu tun.“ Viel häufiger – aber ebenfalls nicht zu beziffern – ist der Missbrauch von Töchtern durch ihre Väter.

Ist die Geschwisterliebe überall verboten?

Nein. Viele Länder sehen das nicht so streng. Nicht bestraft wird einvernehmlicher Geschlechtsverkehr zwischen erwachsenen Geschwistern zum Beispiel in Belgien, Luxemburg und Portugal. Ein Fall fürs Gericht ist Inzest dagegen in Dänemark, Italien, Großbritannien – und eben in Deutschland.

Wie begründen die Richter in Straßburg ihr Urteil?

Sie sahen in der Verurteilung von Patrick S. keinen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens. Schließlich seien sexuelle Beziehungen zwischen Geschwistern in Deutschland strafbar. Die deutschen Gerichte hätten ih­ren Spielraum nicht überschritten, als sie über den Inzest-Fall entschieden.

Das Menschenrechtsgericht verwies zudem auf die Überzeugung der deutschen Richter, dass die Schwester unter einer schweren Persönlichkeitsstörung gelitten habe und stark vom Bruder abhängig gewesen sei. Auch das habe die deutsche Justiz bei der Verurteilung berücksichtigt.

Lässt sich das Inzestverbot aus philosophischer Sicht begründen?

Daran gibt es Zweifel. Dass Kinder aus Inzest-Verbindungen ein erhöhtes Risiko für erb­liche Krankheiten haben, reiche für eine Strafbarkeit nicht aus, meint der Düsseldorfer Philosoph Dieter Birnbacher. „Auch in anderen Fällen, in denen ein genetisches Risiko besteht, greift der Staat nicht ein.“ Zumal das Gesetz die möglichen Gesundheitsfolgen gar nicht im Blick habe, sondern nur den „Beischlaf“ unter Strafe stellt. Auch der Schutz der Institution Familie sei für ein Verbot nicht ausreichend, findet Birnbacher. Sie werde durch den Einzelfall nicht grundsätzlich infrage gestellt. Birnbacher: „Ein generelles Inzestverbot lässt sich nicht rechtfertigen.“ Er sieht hier einen „Rechtsmoralismus am Werk“, der nicht legitim sei. „Es ist der falsche Weg, aus Moral Strafrecht zu machen.“

Ähnlich argumentiert der Siegener Ethiker und Philosoph Carl Friedrich Gethmann. Ein Inzestverbot sei aus medizinischer Sicht nur in sehr engen Grenzen gerechtfertigt und dürfe sich zum Beispiel nicht auch auf Sex zwischen adoptierten Kindern erstrecken. „Das generelle Verbot ist nicht mehr zeitgemäß.“

Kritik am Bundesverfassungsgericht

Bereits 2008 unterstrich das Bundesverfassungsgericht das Inzestverbot im Strafgesetzbuch. Das Gericht begründete seine Entscheidung mit dem hohen gesundheitlichen Risiko für die Kinder eines Inzestpaares sowie mit der Bedrohung der „familiären Ordnung“.

Der Verfassungsrichter Winfried Hassemer kritisierte aber den Mehrheitsbeschluss seiner Kollegen scharf. Die strafrechtliche Vorschrift habe nur „Moralvorstellungen, nicht aber ein konkretes Rechtsgut im Auge“. Zudem kritisierte er „eugenische“ Argumente der Richter, der Hinweis auf genetische Risiken für die Kinder sei „absurd“. Das deutsche Recht kenne keine Strafbarkeit des Geschlechtsverkehrs „selbst dort nicht, wo die Wahrscheinlichkeit behinderten Nachwuchses höher ist als beim Inzest“.