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Wiedergeburt des Tamagotchi: Eine Woche mit dem Pixel-Tier

Wiedergeburt des Tamagotchi: Eine Woche mit dem Pixel-Tier

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Foto: Peter Sieben
Vor 18 Jahren machte das virtuelle Wesen Tamagotchi Kinder froh und Pädagogen besorgt. Nun ist es volljährig, und wir lassen es nochmal schlüpfen.

Düsseldorf. 

Ich habe Bob umgebracht. Beim Ballspielen bin ich versehentlich auf die Reset-Taste gekommen. Welcher Irre baut denn auch die Reset-Taste direkt neben das Auswahl-Knöpfchen, Herrgottnochmal?! Jedenfalls war Bob danach weg. Verschwunden. Meine Freundin versuchte noch, mir weiszumachen, dass Bob ja nicht wirklich tot sei, sondern in einer Art Reset-Zwischenwelt weiterlebe. Aber tief im Herzen weiß ich: Ich habe Bob umgebracht.

Der Anfang dieser Tragödie liegt weit zurück, im Jahr 1997. Mein Sitznachbar in der Schule war der erste, der eins hatte: Ein Tamagotchi. Irgendwann in der Pause holte er das Plastikding stolz aus der Tasche. Das sei ja wohl mal richtig cool, sagte er, während er dem kleinen Pixelvieh auf dem LCD-Bildschirm einen Pixelkuchen ins schnabelartige Pixelmaul stopfte. Naja, geht so, dachte ich und beschloss, diesen Tamagotchi-Quatsch lächerlich und mich selbst zu alt dafür zu finden.

Wer opfert schon ein Tamagotchi-Leben der binomischen Formel?

Und dann hatten plötzlich alle eins. Wo heute Schüler durch rastloses Bewischen ihrer Telefone den Matheunterricht stören, störte meine Generation durch rastloses Bespaßen der digitalen Wesen in den bunten Plastikeiern. Alle paar Minuten fiepten die Tierchen, weil sie virtuellen Hunger hatten oder virtuell verdauen mussten, was ihnen nur mithilfe ihrer realen Besitzer gelingen wollte. Kümmerten die sich unzureichend, erkrankte das Wesen. Es blieb also nichts anderes übrig, als dem Computer-Tier mitten in der Stunde seine digitalen Pillen zu verabreichen. Wer riskiert schon das Leben seines Tamagotchis wegen irgendeiner binomischen Formel? Denn: Ohne die geforderte Zuwendung starb der neue kleine Freund.

Das Gute: In Sekundenschnelle konnte per Knopfdruck ein neues Tierchen geschaffen werden. Auch wenn es damals das Gerücht gab, dass es bei den japanischen Ur-Tamagotchis nur einen Lebenszyklus eines einzigen Tieres gab. Das stimmt zwar nicht, aber 1997 konnte man das nicht so einfach widerlegen, weil es Wikipedia noch nicht gab und Google höchstens als hessisches Wort für Kugel bekannt war. Damals, als Legende noch Wahrheit war.

Bob hat Hunger – und fiept

Jedenfalls ist die Neulade-Funktion auch mein Ausweg aus der Bob-Krise. Obwohl mein Tamagotchi kein Original ist – die erzielen beim Internethändler mittlerweile Sammlerpreise ab 50 Euro, das war’s mir nicht wert – gibt es diese Funktion auch bei meinem Gerät. Per Knopfdruck scrolle ich mich durch die Liste der 49 verfügbaren Wesen: Eins ist so eine Art Ente, ein anderes ein undefinierbares Pixelgewusel. Und eins der Tiere ist … eine Krabbe. Wer will denn eine Krabbe als Freund? So ein Quatsch, denke ich noch, aber da hab ich noch nicht das Rennauto gesehen, was dann folgt.

Meine Vermutung: In der Fabrik hatten sie noch ein paar Pixel von irgendeinem anderen Spiel übrig. Und kurz vor Feierabend raunt der Chefprogrammierer seinem Kollegen zu: „Komm, schmeiß die Krabbe und das Auto einfach noch dazu. Erkennt sowieso keiner, dann haben wir die 49 voll.“ Ich jedenfalls entscheide mich für den lakonisch dreinschauenden Frosch und taufe ihn in Erinnerung an Bob: Bob. mehr als drei Buchstaben habe ich nicht zur Verfügung. Bob hat gleich Hunger und fängt an zu fiepen. Ich schiebe ihm ein Brötchen zu, Bob ist zufrieden und wir spielen ein bisschen mit dem einprogrammierten Ball.

Ein Haustier ohne Risiken

Darin lag schon damals das Spielprinzip, der eigentliche Reiz: Die angestrebte Zielgruppe der Zehn- bis 15-Jährigen bekam einen Hauch von Verantwortung für ein Haustier, das ja keins war. Der sehnliche Wunsch nach dem Hund, dem Pferd, der Katze, dem Hamster wurde ein bisschen erfüllt. Ohne dass genervte Eltern eine Hypothek für den Kauf eines Pferdes aufnehmen oder mit dem Hund des Nachwuchses Gassi gehen mussten, nachdem diese das Interesse daran verloren hatten. Denn genau dazu neigt die Zielgruppe der Zehn- bis 15-Jährigen. Das Tamagotchi als Haustier ohne Risiko. Als ich mir damals schließlich doch so ein Ding zulegen wollte, war es zu spät: Sie waren restlos ausverkauft.

1996 hatte der japanische Spielwarenhersteller Bandai das neuartige Spielzeug entwickelt. Kaum waren die ersten Importe in Europa angekommen, waren die Spielzeugläden leergefegt und zig Kopien anderer Hersteller fluteten den Markt. Die Spielzeughändler hatten die ungeheure Nachfrage unterschätzt. „Ja, die Tamagotchi-Welle setzte quasi über Nacht ein. Binnen weniger Tage entwickelte sich die Nachfrage zu einem Schneeballsystem, dass die Stückzahl in die Höhe trieb“, sagt Willy Fischel, Geschäftsführer des Bundesverbands des Spielwaren-Einzelhandels. Zwischen 1996 und 1999 soll Bandai etwa 40 Millionen Tamagotchis verkauft haben. Vergleichbar damit sei vielleicht der Wirbel um den Rubik Cube gewesen.

Psychologische Studien und besorgte Pädagogen 

Ein Hype war geboren, das Tamagotchi schaffte es auf Titelseiten (oder zumindest auf Seite 3) von Zeitungen und Zeitschriften. Ein neuer Berufszweig entstand: Es soll Tamagotchi-Sitter gegeben haben, die gegen einen Obulus auf die Tamagotchis aufpassten, während ihre Besitzer in der Schule waren. Schnell traten Kritiker auf den Plan. Besorgte Pädagogen waren sicher, dass die Kinderseele überfordert sei mit dem digitalten Leben mit dem dutzendfachen Tod des Tama. Die Grenze zwischen Einbildung und Wirklichkeit verschwimme gefährlich, warnten sie – vergaßen allerdings: Kinder sind nicht so dämlich, wie Erwachsene das bisweilen glauben.

Zu dem Ergebnis kam jedenfalls eine 1998 veröffentlichten Studie. Ja, es gab tatsächlich eine Studie, nur für das Tamagotchi. Und die Kölner Psychologen kamen zu dem Schluss, dass nur Erwachsene Tamagotchis mit einer Bedeutung überfrachteten, während Kinder nichts als ein Spielzeug sähen. Viel Lärm um ein paar Pixel.

Nach ein paar Monaten war der Spuk vorbei, die Jugend von damals tauschte ihre Tamagotchis gegen Handys. Zum Dauerbrenner hat es das kleine Spielzeug nicht gebracht. „Nur wenige Produkte schaffen es vom Shooting-Star zum Klassiker wie zum Beispiel Monopoly“, sagt Spielzeug-Experte Willy Fischel. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen Superrenner sei, dass er alle Altersgruppen, von Kindern, Jugendlichen bis zum Erwachsenen, erfolgreich anspreche und im Trend der Zeit liege.

Mach dir nichts draus, du bist trotzdem cool, Bob. Habe ich das nur gedacht oder habe ich gerade laut mit Bob gesprochen? Egal, Bob fiept, er hat Post bekommen. Ich öffne den Pixel-Umschlag und Bob fängt an zu verdauen. Ihm scheint die Nachricht auf den Magen geschlagen zu sein. Mit dem virtuellen Besen entferne ich Bobs Ausscheidungen, damit er nicht krank wird.

Pou ist der heißeste Scheiß

Apropos Kot: Der heißeste Scheiß bei den Kids ist – nun ja, Scheiß. Nach diversen Neuauflagen der Tamagotchis, die die Fanwelt zwar begeistern, die große Masse aber nicht mehr erreichen konnten, gibt es das Tamagotchi inzwischen auch als App für das Smartphone. Und eines der beliebtesten tamagotchi-artigen Wesen ist Pou. Der ist – ich kann es nicht anders sagen – ein Haufen Scheiße. Also wirklich jetzt. Ansonsten soll das Ding genauso wie all die anderen Tierchen funktionieren, die es so gibt. Wobei: Was verdaut denn Pou? Logisch wäre ja, dass er Tamagotchis aus seinem Darm plumpsen lässt.

Da ist mir der glubschäugige Frosch lieber. Der hat sich inzwischen ein bisschen verändert, hat sich quasi weiterentwickelt, so hat es der Programmierer vorgesehen. Aus dem Kopf sind nun Haare gewachsen, der Frosch hat also jetzt Locken. Bevor ich morgens ins Büro starte, schicke ich auch Bob ins Büro. Ja, auch arbeiten kann er, dafür gibt’s Gold, von dem Bob sich später einen Teddy oder eine alberne Schleife kaufen kann. Ach Bob, denke ich, Bob – das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Das Ende eines Hypes

Bob ist tot. Schon wieder. Diesmal hat ihn meine Freundin auf dem Gewissen. Beim Ballspielen sei das passiert. Welcher Irre baut denn auch die Reset-Taste direkt neben das Auswahl-Knöpfchen, Herrgottnochmal?! Aber es ist jetzt leichter als beim ersten Mal. Ich kenne ja jetzt die Tricks. Schnell wühle ich mich durch die 49 Enten, Krabben und Autos, wähle den Frosch – und da ist er wieder: In Erinnerung an Bob und Bob nenne ich ihn: Bob.

Nach knapp einer Woche verstehe ich das Ende des Hypes, die Luft ist raus. Bob hat Tonnen von Kuchen gegessen, Tonnen an Post bekommen, und Tonnen von Pixeln ausgeschieden. Neulich ist er zu einer Art Brötchen mit Augen mutiert. Mehr passiert nicht und allmählich wird’s langweilig. Ich erwische mich dabei, wie ich auf die Reset-Taste blicke und mich frage, ob die Welt wirklich einen vierten Bob braucht.