Veröffentlicht inPanorama

Warum Ikea Malm in den USA zurückruft – hier jedoch nicht

Warum Ikea Malm in den USA zurückruft – hier jedoch nicht

malm-kommode-mit-schubladen__0107512_pe257194_s4~ac7221b5-4ab2-45e7-851e-df0a0e7505d7.jpg
malm-kommode-mit-schubladen__0107512_pe257194_s4~ac7221b5-4ab2-45e7-851e-df0a0e7505d7.jpg
Nach tödlichen Unfällen von Kindern mit Ikea-Möbeln hat die Firma einen beispiellosen Rückruf gestartet. Aber warum nur in Nordamerika?

Berlin. 

Insgesamt fünf Kinder sind in den USA in den vergangenen 14 Jahren durch umstürzende Kommoden des Möbelherstellers Ikea gestorben. Weil vor allem Kommoden der Malm-Serie ohne zusätzliche Wandbefestigung als nicht mehr sicher gelten, ruft das Unternehmen 36 Millionen Möbelstücke zurück – jedoch ausschließlich in den USA und Kanada. Dort bekommen Kunden den vollen Kaufpreis zurück oder Hilfe bei einer Wandmontage. Auf dem deutschen Markt sind die kleinen Schränke weiterhin zu haben. Wir geben einen Überblick darüber, warum es in Europa keinen Rückruf gab und wieso Ikea seine Kommoden trotz sechs Todesfällen und 36 Verletzten seit 1989 für sicher hält.

Wie kam es in den USA zum Rückruf?

Ikea und die US-Verbrauchersicherheitskommission CPSC haben in einer gemeinsamen Mitteilung den Rückruf angekündigt. Ikea ist dabei formell der Urheber der Rückrufaktion. In der Mitteilung berufen sich beide Parteien darauf, dass der freiwillige Industriestandard ASTM F2057-14 nicht eingehalten worden sei. Die Organisation ASTM, in der Ingenieure, Wissenschaftler und Firmen versammelt sind, legen gemeinsame Standards fest, denen sich Firmen unterwerfen können. In diesem Fall geht es um einen Standard, der bewertet, ob eine Kommode bei einem Belastungsgewicht von 50 Pfund (rund 25 Kilogramm) umkippt oder nicht. Die Malm-Serie hält diesem Gewicht, also nicht stand. Kinder, die an den Schubladen ziehen oder an der Front des Möbelstücks klettern, könnten mit der Kommode umkippen und darunter begraben werden.

Dass eine nach Ansicht einiger Verbraucherschützer gefährliche Kommode überhaupt auf den Markt kommen konnte, ist dem Umstand der Markteinführung geschuldet. „Möbel sind Verbraucherprodukte, die nicht bei einer Zulassungsbehörde angemeldet werden müssen“, sagt Nicole B. Boehler, gebürtige Amerikanerin und Anwältin bei der Kanzlei Squire Patton Boggs (US) LLP.

Ein YouTube-Video zeigt, wie es zu Unfällen mit einer ähnlichen Kommode kommen kann:

Wieso gibt es in Deutschland keinen Rückruf?

Das wohl stärkste Argument gegen einen Rückruf in Deutschland scheint die Tatsache, dass es weder in Deutschland, noch in anderen europäischen Ländern zu Todesfällen mit dem Möbelstück gekommen ist. Auch schwere Verletzungen sind nicht bekannt. Zudem erfüllt der Schrank die Sicherheitsstandards für Produkte in Deutschland – wäre dies anders, wäre er wohl erst gar nicht auf den Markt gekommen.

Die Anwältin Nicole B. Boehler weist gegenüber unserer Redaktion jedoch daraufhin, dass Rückrufe in den USA eben auch immer nach Sicherheitsaspekten erfolgen. Diese Sicherheit kann auch in einem Schutz der Kunden vor sich selbst bestehen. „Nutzen Kunden ein Produkt konsequent falsch, neigen Firmen auf dem amerikanischen Markt dazu, ein Produkt vom Markt zu nehmen“, sagt Boehler. Die Firmen tun dies, obwohl auch in den USA die Verantwortung bei Verbraucherprodukten wie Möbeln letztendlich beim Nutzer liegen. In Deutschland müssen Produzenten zwar auch dafür sorgen, dass ein Produkt auch bei falscher Nutzung keine offensichtliche Gefahr darstellt, die Beweislast liegt jedoch beim Kunden und Beweise sind oft schwer zu erbringen.

Das Argument, dass Ikea mit dem Rückruf teure Klagen verhindern könnte, lässt sich juristisch nicht erhärten. „Nur weil ein Rückruf gestartet wird, heißt es nicht, dass es keine weiteren Klagen geben wird““, so Nicole B. Boehler. Ganz im Gegenteil stehen die Produkte dann viel mehr im Fokus der Öffentlichkeit und Anwälte könnten versuchen, sich auf die Suche nach Betroffenen machen und versuchen mit Klagen Geld zu machen.

Sind die amerikanischen Behörden strenger als die deutschen?

Jein. Verbraucherschützer und Elternverbände werfen der CPSC vor, erst jetzt gemeinsam mit Ikea gehandelt zu haben. Nach zwei tödlichen Unfällen mit Malm-Kommoden im Jahr 2014 hatte die Behörde erst einmal eine Aufklärungskampagne gestartet und Ikea dazu bewegt, kostenlos zusätzliche Wandbefestigungssets anzubieten. Es folgte ein weiterer Todesfall im Februar 2016. Die unabhängige Verbraucherschutzorganisation „Consumers Union“ und das Kinderschutzportal „Kids in Danger“ forderten im April 2016 einen Rückruf. Die Organisationen warfen den US-Behörden vor, während der Aufklärungskampagne verschwiegen zu haben, dass Ikeas Möbel nicht einem gängigen Industriestandard entsprachen – und zwar dem, mit dem die CPSC nun den Rückruf selbst begründet: der Standard ASTM F2057-14. Die Verbraucherschützer unterstellen der Behörde nicht nur deswegen eine Doppelmoral beziehungsweise Fehlverhalten. Denn denselben Standard, mit dem sie nun den Rückruf begründen, hielt die Behörde in einem Bericht aus dem Jahr 2015 noch für zu lasch.

Dennoch ist festzuhalten, dass der nun erfolgte Rückruf nicht so freiwillig ist, wie es Ikea kommuniziert. Federführend scheint die US-Verbrauchersicherheitskommission gewesen zu sein. Denn das Verfahren bei Rückrufen sieht in der Regel vor, dass sich die Verbrauchersicherheitskommission CPSC nach Bekanntwerden einer Gefahr an den Hersteller wendet. Dieser setzt dann von sich aus den Rückruf in Gang. Zwar könnte die CPSC gerichtlich auch einen Rückruf erzwingen, doch dieser Weg würde wesentlich länger dauern und das betroffene Produkt wäre unverändert auf dem Markt.

In den USA und Deutschland gibt es zudem unterschiedliche Formen der Produktüberwachung. Aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales heißt es, die USA folge „dem Ansatz, den Schwerpunkt der staatlichen Überwachung auf den Zeitpunkt vor der Vermarktung zu setzen („Zulassung“), in Europa liegt der Schwerpunkt hingegen nach der Vermarktung („Marktüberwachung“)“. Ein Sprecher teilt zu den Unterschieden bei den Rückrufen gegenüber unserer Redaktion mit: „Beide produktsicherheitsrechtlichen Systeme führen im Regelfall zu sicheren Produkten im Markt. Dass die Hersteller im Falle unsicherer Produkte im Markt in den USA in der Regel schneller und konsequenter reagieren, ist nach hiesiger Auffassung dem deutlich schärfern Produkthaftungsrecht in den USA geschuldet und damit indirekt induziert“.

In Deutschland hingegen können die sogenannten Marktüberwachungsbehörden laut Produktsicherheitsgesetz selbst Rückrufe anstoßen. Diese Behörden werden durch die Bundesländer bestimmt.