Veröffentlicht inPanorama

Giftgas und Phosphor – tödliche Gefahr an Nord- und Ostsee

Giftgas und Phosphor – tödliche Gefahr an Nord- und Ostsee

Die Zahl ist beängstigend: 1,6 Millionen Tonnen alte Munition aus den Weltkriegen rostet an deutschen Küsten vor sich hin – und wird damit immer gefährlicher. Die Unfälle mit angeschwemmten Teilen der Altlast mehren sich. Die Entsorgung schleppt sich dahin. Jetzt sollen Roboter helfen.

Kiel. 

Mittags schiebt sich die „Color Fantasy“ aus dem Kieler Hafenbecken, um über Nacht nach Oslo zu fahren. Am Abend wird die „Stena Germanica“ den Hafen mit dem Ziel Göteborg verlassen. Jeden Tag passieren hier 220 Meter lange Fähren mit Hunderten von Skandinavien-Touristen an Bord die Außenförde. 20 Meter unter den Schiffen, weiß Jens Sternheim seit kurzem, liegen noch 4000 scharfe Minen aus dem 2. Weltkrieg.

Kein Einzelfall an den deutschen Küsten. 1,6 Millionen Tonnen alte Munition – Granaten, Minen, Bomben – schlummert nachgewiesen unter den Wellen. Konventionelle Waffen mehr in der Nordsee, Giftgas häufiger in der Ostsee. „Das sind gesicherte Daten“, sagt Sternheim. Lange war die explosive Unterwasser-Fracht keine Gefahr. Jetzt, 70 Jahre nach Kriegsende, kommt es zu „zunehmenden Korrosionsprozessen“, sagt er. Die gefährliche Altlast rostet durch zwei, drei Millimeter dünne Stahlmäntel. Phosphor, TNT und Quecksilber verteilen sich auf Deutschlands beliebte Urlaubsziele im Norden.

Munition im Meer bremst die Energiewende aus

Sternheim ist Leiter der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Munition im Meer“. Nach Jahrzehnten des Zögerns der beteiligten Regierungen und Behörden soll sie seit 2010 die endgültige Erfassung und Beseitigung angehen. Er sitzt am Schreibtisch im schleswig-holsteinischen Umweltministerium, als eine neue Information der Meldestelle des Maritimen Sicherheitszentrums in Cuxhaven als E-Mail aufschlägt: 20 Seemeilen nordwestlich Juist, Richtung Borkum und Terschelling, hat man gerade „fünf oder sechs“ Sprengkörper gefunden.

Das ist Alltag, seit draußen am Riffgatt der Nordsee Windparks gebaut werden. 80 Millionen Euro haben Energiekonzerne schon aufbringen müssen, um die Unterwasser-Stromtrassen von Kampfstoffen zu räumen. Das Projekt ist deshalb in Verzug. Alte Munition wird zur ernsthaften Hürde für die Merkelsche Energiewende. Die Stromkunden werden den Aufwand der Beseitigung über ihre Tarife bezahlen.

Nicht wenige Menschen haben die Begegnung mit dem gefährlichen Schrott schon in anderer Münze beglichen: Mit ihrer Gesundheit.

Schwere Verletzungen durch Phosphor und Sprengstoff

13. Januar 2014. Am Strand Hubertusberg an der schleswig-holsteinischen Ostsee steckt sich ein 67-jähriger einen schönes Fundstück in die Hosentasche – und geht Minuten später in Flammen auf. Der vermeintliche „Bernstein“ ist Weltkriegs-Phosphor und hat sich auf 1300 Grad entzünden. Weil ein Angler Erste Hilfe leistet, kann der Mann gerettet werden.

April 2010. Eine 44-jährige Lübeckerin nimmt Phosphorbrocken mit nach Hause, die sie am Niendorfer Meereswasserbad gefunden hat. Dort flammt das Fundstück auf. Der Qualm verätzt die Atemwege eines Polizisten.

Die Vorfälle sind noch selten, aber längst keine Einzelfälle mehr. 2012 haben Kinder am Strand von Kalifornien in Holstein „Schießwolle 39“ gefunden, einen steinartigen, schnell entzündlichen Stoff, der sich aus verrostenden Torpedohüllen löst und der neuerdings verstärkt an die Strände treibt. Bei Gammendorf auf Fehmarn traten eine Sechsjährige und ein Neunjähriger beim Spielen in seltsames „Zeug“. Die Fußhaut löste sich, brennende Wunden entstanden, der Sand dampfte weiß. Wieder: Phosphor.

Die Bergung ist brandgefährlich – aber liegenlassen geht auch nicht 

Alleine auf Usedom, glaubt der Koblenzer Biologe Stefan Nehring, der als einer der ersten auf das versteckte Mega-Problem an den deutschen Küsten hingewiesen hat, seien „seit dem Ende des 2. Weltkriegs bis heute hunderte Strandbesucher durch Weißen Phosphor verletzt worden“. Der zündet nicht nur. Er ist auch hochgiftig. „Wahrscheinlich hat es auch Todesfälle gegeben“, glaubt der Biologe.

Für Verwaltungsmann Sternheim stellen sich die Probleme flächendeckend. Eine große Karte hängt an seiner Bürowand. Von Westen nach Osten sind Nordseeteile um Borkum, Juist und Norderney, um Helgoland und nördlich Wangerooge, in der Elbmündung bei Cuxhaven und im Dollart munitionsbelastet. Richtung Baltikum gibt es nur wenig „reine“ Ostsee. Sie weist zudem große „Verdachtsflächen“ wie in der Hohwachter Bucht oder zwischen Greifswald und der polnischen Grenze auf. Sternheim: „Ob und wie viel da unten liegt, das weiß kein Mensch“. Manchmal ist unklar, was: Tabun, Sarin und Senfgas sind in Dokumenten aufgeführt, denen der Experte bis nach Süddeutschland nachspürt.

Derzeitige Bergungsmethoden sind gefährlich – und zu mühsam

Wie kamen die gefährlichen Stoffe ins Meer? Nicht nur Notabwürfe von Bombern oder die Ladung gesunkener Kriegsschiffe sind die Quellen. Sternheim erzählt, wie das nach der Kapitulation 1945 war: Besatzungen deutscher Fischerboote und Marineboote wurden von den Alliierten angehalten, die Waffenreste des fünfjährigen Völkerringens in vorgegebene Meeresteile zu versenken. Um den gefährlichen Job schneller zu tun, öffnete man nicht nur einmal vorab die Luken. Auch das macht die Jagd nach der Weltkriegsmunition zur akribischen Ermittlungsarbeit.

Taucher-Trupps der Marine oder der Sprengmittelbeseitigung der Bundesländer, die die versenkten Bomben bergen oder vor Ort entschärfen, tun einen brisanten Dienst. Zwei ihrer Kameraden sind schon umgekommen. Je länger der Krieg her ist, desto gefährlicher ist ihre Arbeit: Die Zünder klemmen, oder die krankmachenden Stoffe treten aus. Jens Sternheim nennt das heutige Vorgehen „eine Steinzeit-Technik“. Die sei unsicher – und zu langsam: „Eine Bombe am Tag ist zu wenig“.

Roboter sollen helfen

Gemeinsam mit den Universitäten Kiel und Hannover, mit dem Geomar- und Fraunhofer-Instituten bastelt die Arbeitsgruppe an Plänen, Roboter für die Kampfmittelbeseitigung einzusetzen. Staaten mit ähnlichen Problemen hören genauer hin. Gerade hat Sternheim auf einer internationalen Konferenz vom geplanten „german approach“, dem „deutschen Weg“ berichtet, die Altlasten zu entsorgen.

Ob das geht, hängt von Willen und Kassenlage in Berlin und in den Landeshauptstädten ab. Schon streitet man ums Geld. Der Kieler Umweltminister Robert Habeck mache ja Druck, sagt Jens Sternheim: „Aber es gibt noch manche, die meinen, man sollte das alles einfach liegen lassen“. Als wenn Weggucken verantwortbar wäre, wenn man weiß, dass im Krieg 800.000 Seeminen zum Einsatz gekommen sind.