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Zwischen Königen und Gewinnern

Zwischen Königen und Gewinnern

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Foto: MSG

Im niedersächsischen Vechta können Urlauber die fremden Sitten der Norddeutschen hautnah kennenlernen.

In Norddeutschland ist vieles anders, als man’s kennt. Zwar gibt es eine Sportart, die dem Kegeln ganz schön ähnlich scheint, aber es gibt gar keine Kegel. Es geht nur darum, eine Kugel – auf Plattdeutsch „Bossel” – möglichst weit zu rollen. Und so schwer kann das doch nicht sein, denke ich mir, aber der erste Wurf kommt keine zehn Meter weit. Vielleicht auch nur fünf. Jedenfalls ist mir das schwere Sportgerät wenigstens nicht auf den Fuß gefallen. Vor dem zweiten Wurf denke ich: Der wird’s jetzt, der muss doch weiter fliegen. Aber typisch norddeutsch: Statt eine glatte Straße zu wählen, auf der die Kugeln tüchtig rollen, quälen wir uns über Stock und Stein, durch Matsch und Lehm.

Meine Teammitglieder feuern mich herzlich an. Jedenfalls lassen sie sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. Auch wenn die gegnerische Mannschaft unangefochten führt.

Wir sind auf Grünkohlfahrt im niedersächsischen Vechta. Eva Desens bemüht sich auch, die Bossel weit fliegen zu lassen, um möglichst schnell zum Schützenhof in Rechterfeld zu gelangen. Sie gehört zu dem runden Dutzend, mit dem ich durch die Gegend bossle. Für uns Auswärtige ist das nur Spaß. Für sie als Einheimische geht es um viel mehr. Die Bossel-Verlierermannschaft stellt nämlich traditionell das neue Grünkohlkönigspaar. Ein eher ungeliebter Titel, denn das Paar muss die nächste Kohlfahrt organisieren. Und wer will sich schon das ganze Organisationsbrimborium antun, wenn man auch einfach gemütlich nebenher laufen kann. Eva Desens hat es letztes Jahr nicht getroffen. Sie ist keine Kohlkönigin. Aber fast genauso schlimm: Ihr Mann Klaus ist der König. Und wie das eben so ist in der Ehe: Was mein ist, das ist auch dein. Könnte ganz romantisch sein, wenn’s hier nicht um Knochenarbeit ginge: Bosselstrecke abstecken, Lokal zum Grünkohlessen suchen und finden, und natürlich den Bollerwagen füllen. Mit Hochprozentigem zumeist, denn: Die einzige Regel, die’s beim Bosseln auf der Kohlfahrt zu geben scheint, besagt nämlich, dass an jeder Kreuzung ein Schnaps getrunken wird. Ein feucht-fröhliches Unterfangen also.

Insgeheim hatte ich gehofft, dass die weiblichen Mitstreiter meines Teams genauso unbeholfen bosselten wie ich. Sie können es aber besser. Auch Eva Desens. Aber sie ist auch gut im Training: Allein in dieser Saison geht sie drei Mal auf Kohlfahrt. Ich frage, ob hier von Kindertagen an gebosselt wird. Nein, lautet die Antwort, am Anfang ist es den Kindern peinlich, aber später kommen sie dann – ganz freiwillig – mit. Der Bollerwagen wird auch auf jeder Kohlfahrt anders gefüllt – sagen wir mal, je nach Interesse. „Unsere Nachbarn ziehen heute mit Kaffee und Kuchen los”, erklärt die Frau vom amtierenden Grünkohlkönig. Generell ist der Bollerwagen aber immer mit landestypischen Getränken und Speisen gefüllt.

Nach zwei Stunden sind wir immer noch nicht weit gekommen. Das mag an den zahlreichen Kreuzungen liegen, die wir unterwegs passiert haben. Zwischenzeitlich durfte ich auch wieder Asphalt unter den Füßen spüren. Bei meinem Glück war ich natürlich nicht am Zug. Sonst hätte ich sicher den Wurf meines Lebens gemacht. Wo das Bosseln eigentlich herkommt und wieso man’s nur im Winter spielt, interessiert mich dann doch, auch wenn ich der Sportart eigentlich schon abgeschworen habe. Seinen Ursprung hat das Bosseln in Ostfriesland, erklärt man mir. Im Winter sind dort die Gräben neben den Feldwegen zugefroren und bei Fehlwürfen ist die Bossel leichter zurückzuholen. Angenommen es wäre Sommer und neben den Feldwegen hier gäbe es Wasserläufe. Ich hätte ein Problem. Aber man kann schon fast sagen: Gott sei Dank, es ist ja kein Sommer.

Nach fünf Stunden haben wir unser Ziel erreicht, einen Schützenhof voller Grünkohlkönige und voller Gewinner. Das halbe Oldenburger Münsterland hat sich – so scheint mir – hier versammelt. Auf unserer Strecke haben wir auch immerhin schon zwei muntere Truppen mit Bollerwagen getroffen. Sieben Kilometer liegen jetzt hinter uns. Meine Mannschaft hat beim Bosseln verloren. Ob’s meine Schuld war, weiß ich nicht. Aber das trübt die norddeutsche Lebensfreude ohnehin nicht. Denn immerhin gibt es jetzt Grünkohl mit üppiger Einlage, sprich: Bauchspeck. Dazu gibt es „Pinkel”, eine etwas eigenwillige, aber höchst nahrhafte Wurstspezialität. Kurz: Man bekommt eine tüchtige Grundlage in den Bauch für ein mittelschweres Trinkgelage. Nur dass wir das schon hinter uns haben; aber hier ist ja alles ein bisschen anders.