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Auch zehn Jahre danach ist Erfurt vom Amoklauf geprägt

Der Amoklauf von Erfurt – eine Wunde, die nicht heilt

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Foto: WAZ FotoPool
Der Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, bei dem 16 Menschen starben, jährt sich zum zehnten Mal. Ein Besuch offenbart, dass die Zeit nicht alle Wunden heilt, sondern sie nur lindert. Hausmeister Uwe Pfotenhauser erinnert sich.

Erfurt. 

Fünf, sechs Minuten in seinem Leben gibt es, an die hat Uwe Pfotenhauer keine Erinnerung mehr. Der Hausmeister weiß, was davor geschah, er erinnert sich an den ersten Knall, dazwischen jedoch ist nichts. Er sieht Robert Steinhäuser, wie der ihm entgegenkommt, wie er ihn fragt, ob Frau Alt im Haus sei. Frau Alt, die Rektorin. Er hört sich antworten: „Ja, ist sie. Aber Du weißt ja, heute ist Prüfung. Da ist sie bestimmt nicht zu sprechen.“ Vor zehn Jahren brachte ein Amokläufer den Tod ins Erfurter Gutenberg-Gymnasium. (hier geht’s zum großen Multimedia-Spezial zum Tag des Gedenkens und zum Tathergang)

Das Leben ist weitergegangen, auch hier. Und hätte man dem Schulgebäude nicht diesen scheußlichen Beton-Block vor das Portal gepresst, stünde es dort genauso ehrwürdig und stolz wie immer. Die 22 ausladenden Stufen sind Teil eines Umbaus, der furchtbare Bilder, Erinnerungen tilgen sollte. „Sie können hier abreißen so viel Sie wollen, wer diesen Tag erlebt hat, weiß genau, was passiert ist. Ich weiß, wo jeder Einzelne lag, wo jeder Blutfleck war“, sagt Uwe Pfotenhauer.

Das Massaker hat sich in das Bewusstsein der Bevölkerung eingebrannt

An jenem 26. April 2002 betrat der 19-jährige Robert Steinhäuser das Gutenberg-Gymnasium, eben jene Schule, von der er ein halbes Jahr zuvor von der Rektorin verwiesen worden war. Kurz vor dem Abitur und, der damaligen thüringischen Schulpraxis entsprechend, ohne jeden Abschluss. 20 Minuten soll das Massaker gedauert haben. Steinhäuser erschoss mit seiner Pistole 16 Menschen. Lehrerinnen, Schüler, einen Polizisten und schließlich sich selbst.

Die Stadt, sie ist lange danach wie gelähmt. In schier endlosen Reihen schieben sich die Menschen durch die Arkaden des Rathauses zum Kondolenzbuch. Tränen, wohin man sieht. Sich gegenseitig stützende Schüler. Ratlose Erwachsene. „Das Massaker hat sich in das Bewusstsein der Bevölkerung eingebrannt. Jeder Erfurter weiß noch heute genau, wo er damals davon erfahren hat“, sagt Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein zehn Jahre später.

Hilfe-Zettel am Fenster

Uwe Pfotenhauer, der Hausmeister, hat sie alle gesehen, die Toten. Den ersten Schuss, dieses scheppernde Geräusch, hatte er noch den Bauarbeiten im Haus zugeordnet. Aber dann hörte er jemanden rufen: „Da schießt jemand auf Lehrer!“ Pfotenhauer läuft intuitiv zum Schulsekretariat, öffnet die Tür und sieht die Sekretärin Anneliese Schwertner angeschossen am Boden liegen. Rosemarie Hajna, die stellvertretende Schulleiterin, sitzt noch auf ihrem Stuhl, Kopf und Oberkörper sind auf den Schreibtisch gefallen.

Pfotenhauer ruft die Polizei an, eilt auf den Schulhof, dem Notarzt entgegen. Anneliese Schwertner schien noch zu atmen. Er will den Arzt leiten. Im Gebäude geht indes das Morden weiter, Steinhäuser zieht von Etage zu Etage. Rektorin Christiane Alt hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Vieles, was danach geschieht, sieht Uwe Pfotenhauer nur noch von der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Kinder, die an die Fenster ihrer Klassenräume Hilfe!-Zettel kleben, die dort panisch ausharren, weil lange Stunden niemand weiß, ob sich womöglich noch ein Täter im Haus befindet.

„Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Sie lindert sie nur“

Um 15 Uhr bittet die Polizei Uwe Pfotenhauer, eine Spezialeinheit durch das ganze Gebäude zu führen. Noch kann ein zweiter Täter nicht ausgeschlossen werden. Später hilft der heute 50-Jährige jeden einzelnen Toten zu identifizieren.

Zehn Jahre später sagt er: „Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Sie lindert sie nur.“ Ungezählte Male ist er den Weg Robert Steinhäusers durch die Schule abgelaufen. Mit der Stoppuhr in der Hand. „Ich bin nie auf die Zeit gekommen, die im Abschlussbericht der Ermittler genannt wird“, sagt Pfotenhauer, der lange von einem zweiten Täter ausging. Ungereimtheiten gab es einige, manche wurden nie geklärt.

Pfotenhauers Führung durch das Gymnasium endet in seinem Büro im Erdgeschoss. Fotos hängen dort aus alten Zeiten. Anneliese Schwertner bei einer privaten Feier, in die Kamera lachend. Mit der Sekretärin hatte sich Uwe Pfotenhauer am Morgen des Massakers wie immer zum zweiten Frühstück getroffen. Und mit Rosemarie Hajna, der stellvertretenden Schulleiterin. Nach den beiden Frauen benannte der 50-Jährige auch seine kleine Tochter. Anne-Marie. Das Mädchen kam ein Jahr nach dem Amoklauf zur Welt. „Ein Trauma-Kind“, sagt der Hausmeister.

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