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Nachhilfe für Einser-Schüler ist keine Seltenheit mehr

Nachhilfe für Einser-Schüler ist keine Seltenheit mehr

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148F36002F68360F.jpg Foto: dpa
  • Jeder dritte Nachhilfeschüler hat Schulnoten zwischen „sehr gut“ und „befriedigend“
  • Pro Monat geben Eltern im Schnitt 87 Euro für Nachhilfe aus, insgesamt fast 900 Millionen pro Jahr
  • Experten kritisieren das Schulsystem

Berlin/Gütersloh. 

Eine Zwei in Mathe – und trotzdem Nachhilfe? Es klingt absurd, ist aber Alltag in vielen Familien: In Deutschland hat mehr als jeder dritte Nachhilfeschüler Schulnoten zwischen „sehr gut“ und „befriedigend“, wie eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, die unserer Redaktion vorliegt.

„Für viele Eltern ist Nachhilfe heute nicht mehr Gefahrenabwehr sondern Chancenverbesserung“, sagt Studienautor Klaus Klemm. „Immer mehr Schüler bekommen trotz guter Leistungen Nachhilfe.“ Der Grund: Noten werden zunehmend wichtiger – beim Schulwechsel oder bei Bewerbungen um Ausbildungsplätze und Studienplätze.

Ende der Woche gibt es Halbjahreszeugnisse

Ende der Woche gibt es in Berlin, Hamburg und NRW Halbjahreszeugnisse – und damit Gesprächsstoff in vielen Familien: Läuft alles rund oder braucht das Kind Nachhilfe? Laut Bertelsmann-Studie bekommt jeder siebte Schüler (14 Prozent) in Deutschland Nachhilfestunden – pro Monat geben Eltern im Schnitt 87 Euro für die Förderung aus, insgesamt fast 900 Millionen pro Jahr. Die meisten bekommen Nachhilfe in Mathe, gefolgt von Fremdsprachen und Deutsch.

Doch nicht jeder Nachhilfeschüler hat schlechte Noten: Fast 40 Prozent aller Kinder und Jugendlichen, die Nachhilfe in Deutsch bekommen, haben Schulnoten zwischen „sehr gut“ und „befriedigend“, in Mathe und den Fremdsprachen sind es immerhin mehr als 30 Prozent, in anderen Fächern sogar über 75 Prozent. „Den Eltern geht es nicht nur um die Fünf in Mathe. Viele buchen auch bei guten Noten Nachhilfe für ihr Kind – zum Beispiel, um den Übergang aufs Gymnasium zu schaffen oder um die Abschlussnoten zu verbessern“, sagt Dirk Zorn, Bildungsexperte der Bertelsmann-Stiftung.

„Das Schulsystem geht in die falsche Richtung“

Dabei geht es oft um Kommastellen: „Kinder mit einem Zeugnisschnitt von 2,5 bekommen Nachhilfe, damit sie 2,3 schaffen“, bestätigt Klemm, Bildungsforscher an der Uni Duisburg-Essen. „Aus Sicht der Eltern ist das vernünftig. Doch insgesamt ist es hochproblematisch: Ein Schulsystem, das Kinder wegen einer Nachkommastelle zum Pauken verpflichtet, geht in die falsche Richtung.“

Zumal der Nutzen der privaten Förderung umstritten ist: „Es ist unklar, ob Nachhilfe wirklich hilft; die Befunde hierzu sind widersprüchlich“, sagt Bildungsexperte Zorn. „Eine neuere Studie aus 2014 zum Beispiel konnte keine gesteigerte Kompetenzentwicklung unter Grundschülern durch bezahlte Nachhilfe nachweisen.“

In anderen europäischen Ländern liegen die Nachhilfequoten allerdings noch weit höher: „Im internationalen Vergleich wirken die deutschen Eltern in puncto Nachhilfe recht entspannt“, sagt Zorn. Doch die Zahlen zeigen nicht das ganze Bild: Viele deutsche Eltern verzichten auf fremde Hilfe und schlüpfen selbst in die Rolle des Nachhilfelehrers: „Was die meisten Erhebungen nicht widerspiegeln, auch unsere aktuelle Studie nicht, ist das Ausmaß der elterlichen Unterstützung ihrer Kinder beim Lernen.“

„Wer keine Hilfe von den Eltern bekommt, hat es schwerer“

Neben kostspieliger Nachhilfe sei das ein weiteres Einfallstor für Chancenungleichheit: „Wer keine Hilfe von den Eltern hat, hat es schwerer.“ Auch deshalb sei es wichtig, die Ganztagsschulen auszubauen und allen Kinder Zugang zu guten Lernangeboten zu geben. Bereits jetzt zahlen nur zwei Drittel der Eltern für die Nachhilfe ihrer Kinder. Jeder Dritte nutzt kostenlose Angebote an der Schule.

Für die Studie wurden Anfang 2015 bundesweit über 4000 Eltern schulpflichtiger Kinder im Alter von sechs bis 16 Jahren befragt. Fünf Prozent aller Schüler an Grundschulen und 18 Prozent aller Kinder an weiterführenden Schulen erhielten Nachhilfeunterricht. In den meisten Fällen haben die Nachhilfeschüler bis zu drei Stunden pro Woche – jeder Zehnte muss vier oder mehr Stunden büffeln.

Und auch das ergab die Umfrage: Im Osten wird Nachhilfe häufiger in Anspruch genommen als im Westen, Eltern mit höherem Einkommen organisieren etwas häufiger Nachhilfe für ihre Kinder, Schüler mit Migrationshintergrund nehmen etwas seltener Stunden als ihre deutschen Altersgenossen.