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Unterlassene Hilfeleistung in Bank: Darum kamen die Kunden mit Geldstrafe davon

Unterlassene Hilfeleistung in Bank: Darum kamen die Kunden mit Geldstrafe davon

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Weil sie einen sterbenden Mann ignorierten, mussten sich drei von vier Angeklagten vor Gericht verantworten. Foto: Daniel Schreckenberg
  • Ein Senior (83) bricht am 3. Oktober in einer „Deutschen Bank“-Filiale zusammen
  • Vier Kunden helfen ihm nicht
  • Jetzt wurden drei von ihnen zu Geldstrafen verurteilt

Essen. 

Dreimal wird das Video den Anwesenden gezeigt. Dreimal sehen sie, wie Karl H. (83) in der Filiale der Deutschen Bank in Borbeck stürzt, sich wieder aufrappelt, erneut zu Boden geht. Dann betreten vier Kunden die Bank. Nacheinander sehen sie Karl H., doch sie lassen ihn hilflos zurück. Bestürzung im Saal. „Da fällt mir nichts mehr zu ein“, sagt ein Senior auf der Zuschauerbank.

Der Fall aus dem Oktober des letzten Jahres machte deutschlandweit Schlagzeilen, das Medienecho war enorm. Sogar überregional wurde berichtet: über die fehlende Empathie der Bankkunden. Und über ihre Herzlosigkeit. Am Montag mussten sich drei der Angeklagten vor dem Amtsgericht in Borbeck verantworten.

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Der Verhandlungssaal ist prall gefüllt. Draußen die Kamerateams, drinnen, dicht gedrängt Journalisten und das Publikum. Auf der Anklagebank sitzen Alfred B. (55) aus Oberhausen, Sandra G. (39) und Karl-Heinz T. (62), beide aus Essen. Der vierte Angeklagte wird sich in einem gesonderten Verfahren verantworten müssen. Sein Gesundheitszustand ließ ein Kommen nicht zu.

Unterlassene Hilfeleistung heißt die Anklage, bis zu einem Jahr Gefängnis könnten die Drei bekommen. Das Gericht muss klären, warum die Angeklagte keine Hilfe holte.

Der Bildschirm zeigt die Überwachungsaufnahmen vom 3. Oktober. Karl H., wie er um Viertel vor fünf die Bank betritt. Seine Bankgeschäfte tätigt. Erst Kontoauszüge zieht, dann Geld abhebt. Er trägt eine rote Cappie, einen gepflegten Mantel, die Bankpapiere sind in seiner Hand. Plötzlich kippt er um. Wie vom Blitz getroffen, knallt er mit dem Kopf gegen den Bankautomaten hinter ihm. Bleibt liegen. Zunächst regungslos. Dann rappelt er sich auf. Stützt sich mit beiden Händen an einer kleinen Theke ab. Erneut bricht er zusammen. Fällt ungebremst auf den Hinterkopf.

Der 83 Jahre alte Essener steht aber noch ein weiteres Mal auf. Richtet seine Mütze. Steht vor dem Bankautomat. Wieder fällt er. Wieder ungebremst. Karl H. bleibt liegen. Rücklings, nur seine Arme und Beine bewegen sich noch. Die Kappie ist ihm vom Kopf gefallen, sie liegt meterweit von ihm entfernt.

Karl-Heinz T. erblickt den hilflosen Mann als eErster. Und tut: nichts. „Ich dachte er sei ein schlafender Obdachloser“, sagt er vor Gericht.

Ob er nicht auch einem Obdachlosen helfen würde, fragt der Richter, „schließlich sind das keine Menschen zweiter Klasse.“ Darauf sagt der Angeklagte nichts.

Angeklagte reden sich raus

Auf dem Video macht er seine Bankgeschäfte, blickt kurz auf den am Boden liegenden Senior. Und verlässt die Bank. Beim Herausgehen hält er einem Rollator-Fahrer noch die Tür auf. Es ist der Mann, der sich später separat verantworten muss.

Vor dem Richter erläutert T. weitere Gründe, warum er nicht geholfen hat. Dass er nicht gesehen habe, dass der Mann verletzt sei. Und dass mit seinen Gedanken woanders war. Er pflegte seine kranke Mutter zu dieser Zeit.

Ähnlich argumentiert Alfred B.: Mutter im Krankenhaus, Vater im Altenheim. Das habe ihn abgelenkt. Auch B. hält den am Boden liegenden Senior für einen schlafenden Obdachlosen.

Auch die Bank habe Schuld

So will es auch Sandra G. gesehen haben. Häufig lägen diese in der Filiale. Deshalb sei sie schnell rein und wieder raus. Bloß nicht bepöbeln lassen, das komme oft vor, sagt sie. Auch die Deutsche Bank trage Schuld. Sie fühle sich in der Bank nicht wohl. Auch deshalb habe sie nicht nach Karl H. geschaut.

Im Video betritt Patrick Spitzer die Bank. Er schiebt sein Fahrrad in die Filiale, geht zum Bankautomat. Auch er blickt zunächst etwas unbeteiligt auf den Senior am Boden. Geht zurück zu seinem Rad, verlässt die Bank. Dass er nicht auch auf der Anklagebank sitzt, liegt an dem, was er vor der Filiale tut: Er ruft die Polizei. „Das ist doch normal“, erklärt er dem Gericht. „Stellen Sie sich doch Mal vor, das wäre ihr Großvater“, diktiert er später dem Reporter in den Block.

Den Angeklagten tut es leid

Jetzt wo die Angeklagten das Video sehen, die Stürze, die Hilflosigkeit des Seniors, tut es den Angeklagten leid. Doch kommt das nicht zu spät? Das soll die weitere Verhandlung zeigen.

Zu der kam es nur, weil es nach dem Tragödientag noch weiter ging. Die Polizei reagierte auf den Notruf von Patrick Spitzer, ruft den Rettungsdienst. Im Krankhaus werden schwere Verletzungen bei Karl H. festgestellt. Aber er ist ansprechbar. Nach Tagen auf der Intensivstation geht es ihm wieder etwas besser. Dann verstirbt er unerwartet, eine Woche nach seinem Sturz.

Zur Ermittlungen kommt es überhaupt erst, weil die Tochter des verstorbenen zur Polizei geht. Sie vermutet, dass jemand seine Bankkarte gestohlen hat. Deshalb sichtet die Kripo die Bänder der Überwachungskameras. Und ermittelt die vier Angeklagten.

Die Polizei ist am Montag auch vor Gericht erschienen. Die Beamten schildern, wie sie Karl H. auffanden. Hilflos, etwas orientierungslos, aber nicht schlafend. Ein Beamter berichtet, dass H zwar sagte, dass er müde sei und sich deshalb hingelegt habe, aber er berichtet auch, von dem Blut, das H. aus dem linken Ohr getropft sei. Auf dem Video ist er der Erste, der sich zum Senior hinunterbeugt.

Polizei: So sieht kein schlafender Obdachloser aus

Die Polizisten erklären ebenfalls, dass es sich augenscheinlich nicht um einen Obdachlosen gehandelt hat. Das gepflegte Aussehen. Die Position, in der der Mann gelegen hat. Die Bankunterlagen in der Hand. Die Cappie. Ein Polizist: „Die schmeißt doch niemand so neben sich, wenn er sich Schlafen legt. Es fehlte auch der sonst übliche Alkoholgeruch und das Modrige in der Luft.“

„Mir fehlen die Worte“, sagt die Staatsanwältin in ihrem Schlussplädoyer. Sie fordert eine empfindliche Geldstrafe von den Angeklagten. Für sie ist klar: Sie haben sich wegen unterlassener Hilfeleistung schuldig gemacht. Ihre Ausreden will die Staatsanwältin nicht gelten lassen, fragt vielmehr: „Wie kann man beim Anblick des Videos noch denken, dass sei ein schlafender Obdachloser.“

Die Verteidigung sieht das natürlich anders. Sie argumentiert: vier von fünf Menschen haben in Karl H. eben keine hilfsbedürftige Person gesehen. Und deshalb können sie sich auch nicht geirrt haben. Außerdem: Nur wegen des Medienechos stehen ihre Mandanten vor Gericht. Statt Geldstrafe fordern sie Freispruch. Doch damit scheitern sie.

Richter ist fassungslos

Bei der Urteilsverkündigung wird der Richter Karl-Peter Wittenberg emotional. Er ist fassungslos. Ob die Verteidigung ein anderes Video gesehen hätte als er, fragt er. Er spricht von einer „Scheiß-Egal-Haltung“, der Angeklagten, die „ohne mit der Wimper zu zucken, über den hilflosen Mann gestiegen sind.“

Er verhängt Geldstrafen, die höchste für Sandra G., weil er ihr die Reue nicht abkauft, ja sie sogar der Bank eine Teilschuld gibt. Doch Wittenberg sagt auch, dass hier keine Monster verurteilt werden. „Die mediale Berichterstattung war teilweise zu hart. Der Mann ist nicht sterbend in der Filiale liegen gelassen worden.“ Der Richter hofft mit dem Urteil etwas anderes: Das nach diesem Fall alle endlich mal wieder etwas mehr auf die Mitmenschen blicken. Und sie in Notsituationen nicht einfach liegen lassen.