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Handel steht vor einem Umbruch – Wie sieht es in Mülheim aus?

Handel steht vorm Umbruch – Wie sieht es in Mülheim aus?

Der Handel steht vor einem epochalem Umbruch. Einer Studie zufolge werden 70 Prozent der Geschäfte nur überleben, wenn sie sich völlig neu erfinden. Einige Unternehmen haben die Weichen längst gestellt. Nun stellt sich die Frage, wie es in der klassischen Handelsstadt Mülheim aussieht.

Mülheim. 

Mit ein paar Mausklicks gemütlich vom Sessel zu jeder beliebigen Tageszeit ein Produkt zu bestellen und es am nächsten Tag durch einen Boten in Empfang zu nehmen, wird immer populärer. Wurden 2005 bundesweit noch Waren im Wert von 7,4 Milliarden Euro online gekauft, so waren es im vergangenen Jahr schon 33,1 Milliarden. Das ist eine Steigerung von rund 350 Prozent in acht Jahren. Hinzu kommen aber noch Tickets für Flugreisen, Konzerte und Bahnreisen im Wert von rund 10 Milliarden.

Für das Kölner Institut für Handelsforschung hat bereits ein neues Zeitalter begonnen: In einem Szenario für das Jahr 2020 kommen sie zu dem Ergebnis, dass sich 70 Prozent der Läden völlig neu erfinden werden müssen oder vom Markt verschwinden. „Nur wer den online-getriebenen Anforderungen der Kunden gerecht werden kann, hat eine Chance zu überleben“, lautet die Quintessenz. Wer allein auf Internethandel setzt, hat aber auch schlechte Aussichten. Die richtige Mischung zwischen online und offline, die auch von Produkt zu Produkt anders ist, muss gefunden werden.

„Cluster“ für Mülheim

Wie sieht es in der klassischen Handelsstadt Mülheim aus? Wird sie ein digitaler Marktplatz? Von der Notwendigkeit ist zumindest Wirtschaftsförderer Jürgen Schnitzmeier überzeugt. Er wirbt für einen Branchen- und Produktionsverbund, Cluster genannt. Unternehmen aus unterschiedlichen Stufen der Produktionskette müssten gemeinsam mit Forschungseinrichtungen und der Hochschule kooperieren, um Innovation, Wachstum und Beschäftigung zu fördern. „Aber die Konkurrenz im Handel ist groß, eine Kooperation daher schwierig“, sagt er.

Was wird aus den kleinen Geschäften?

Eine wichtige Rolle im E-Commerce-Geschäft spiele die Tengelmann-Gruppe, die bereits 2001 den ersten Online-Shop eröffnete und seitdem als Promoter und als Investor auftritt. Wie sie junge Geschäftsideen unterstützen, sei kürzlich beim vierten „E.-Day“ deutlich geworden. Dort hatten sich über 400 Kenner der Branche über die epochalen Umwälzungen im Handel ausgetauscht. Welche Anstrengungen Aldi für das digitale Zeitalter unternimmt, ist wie alles bei dem Discounter ein Geheimnis.

Und die Kleinen? Das Sportgeschäft Team 101 am Hingberg und die Ruhrpottlocals mit ihrem zweiten Standbein Kerzilein sind schon lange im Netz. 120 Händler zwischen Flensburg, Berlin und München vertreiben inzwischen die beschrifteten Kerzen, die Thomas Biesgen und Nina Hubinger mit drei Angestellten produzieren. Einige Große seien darunter, die sie auch in ihre Kataloge aufgenommen hätten. Die jungen Händler haben die Erfahrung gemacht, dass sich dort, „wo wir Händler haben, auch Kunden über das Internet melden und bestellen“. Über Internet können die Händler direkt ordern. Gleichzeitig ist es Werbeplattform. „Händler und Kunden müssen wir regelmäßig mit Newsletters bei Laune halten“, weiß Biesgen. Das Thema WM („Ich brenne für Deutschland“) haben sie schon vor Wochen angekündigt, aktuell läuft eine Aktion für die Einschulung und demnächst startet die Produktion fürs Weihnachtsgeschäft.

Soziale Kontakte imitieren

E-Commerce besteht nicht nur aus einem klassischen Versandkatalog, den man im Internet aufschlagen kann, weiß Guido Zakrzewski von der IHK Essen. Einkaufen ist aus seiner Sicht ein soziales Erlebnis, deshalb ist er davon überzeugt, dass es auch immer Geschäfte geben wird. „Im Internet müssen solche sozialen Kontakte nachgeahmt werden, deshalb ist das mit den Empfehlungen und dem Liken so wichtig. Denn sonst macht das keinen Spaß“, sagt er. Marketing ist ein anderer Aspekt. Das ist das Metier der Tradeers, die seit gut einem Jahr in der Tengelmann-Rotunde an der Ruhr untergebracht sind und seitdem zum Rudel der Hirschengruppe zählen, einem großen Agenturnetzwerk. Wie dem Netz zu entnehmen ist, wird Nachwuchs gesucht: Praktikanten und erfahrene Mitarbeiter. Zuletzt haben die Tradeers die Internetseite von Like Meat optimiert, einem Unternehmen, dass Fleischersatzprodukte wie pflanzliche Schnitzel an Tegelmann, Edeka & Co. verkauft. Den Facebook-Auftritt haben sie auch schon erstellt. Zuvor haben sie den Auftritt von Plus.de fürs Smartphone angepasst.

Neuer Online-Logistiker im Hafen

Jetzt hat sich auch ein Logistikunternehmen für den Online-Markt im Mülheimer Hafen angesiedelt. Auf Vermittlung von Realogis, einem Düsseldorfer Beratungsunternehmen für Logistikimmobilien, mietet die Jago AG an der Weseler Straße 30-40 eine knapp 1200 Quadratmeter große Lagerhalle. Jago ist ein erst 2005 gegründeter E-Commerce-Versandhändler, der wächst und sich auf Produkte aus den Bereichen Garten, Heimwerker, Kinder, Wohnen und Freizeit spezialisiert hat. Hauptsitz ist Stuttgart. Weitere Standorte mit 110.000 Quadratmeter Lagerfläche befinden sich in Niedersachsen.

Der Mülheimer Standort soll im August in Betrieb genommen werden und 30 neue Arbeitsplätze im Bereich Lagerverwaltung schaffen. „Mit dem weiteren zentralen Lagerstandort im Herzen Europas will die Jago AG gewährleisten, dass die Kunden ihre Bestellungen noch zeitnäher erhalten“, heißt es in der Pressemitteilung. Das ist auch notwendig. Wer Jago googelt, stößt auf Klagen über lange Lieferfristen. Je selbstverständlicher Onlinegeschäfte sind, desto höher sind nämlich auch die Ansprüche.