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Experte über Hamas-Geiselnahme: „Sollten uns nicht gegenseitig im Weg stehen“

Noch immer hält die Hamas mehr als 200 Geiseln fest. Sicherheitsexperte Peter Neumann über die Chancen der Geiseln.

© IMAGO/ZUMA Wire

Angehörige von Hamas-Geiseln: Scholz muss politischen Druck machen

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich in Israel mit Angehörigen von Hamas-Geiseln mit deutscher Staatsbürgerschaft getroffen. Er erwarte keinen militärischen Einsatz Deutschlands, sagte anschließend Chanaan Cohen, dessen 79-jährige Schwester in Gewalt der Islamisten ist: "Aber der politische Druck, der muss da sein."

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel hält diese mehr als 200 Geiseln im Gazastreifen fest. Unter den mindestens 222 Geiseln sollen sich auch mehrere Deutsche befinden. Vier Geiseln hat die Hamas bislang freigelassen – die Verhandlungen laufen weiter.

Im Gespräch mit der Redaktion erklärt Peter Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London und Leiter des „International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR)“, wie die Chancen für die Geiseln stehen und was die deutsche Bundesregierung jetzt tun sollte.

Interview mit Sicherheitsexperte Peter Neumann

Politikwissenschafter Prof. Peter Neumann. Foto: Kings College London

Herr Neumann, welchen Zweck verfolgen die Hamas mit den Geiselnahmen?

Peter Neumann: Ich glaube, sie verfolgen mehrere Ziele. Zum einen wollen sie Israel demütigen, indem sie sagen, wir haben die volle Macht über eure Leute. Zum anderen benutzen sie die Geiseln als eine Art Köder, um die Israelis mit ihrer Bodenoffensive in Fallen zu locken, wenn sie versuchen, die Geiseln zu befreien. Ich bin sicher, dass die Hamas rund um die Geiselverstecke viele Fallen aufgestellt haben, um weitere israelische Soldaten als Geiseln zu nehmen. Außerdem bringen die Geiseln der Hamas viel politisches Kapital. Sie können die Geiseln als Verhandlungsgrundlage nutzen, um ihre eigene Situation zu verbessern.

Sind die Geiseln der Grund warum die israelische Bodenoffensive im Gazastreifen noch nicht begonnen hat?

Peter Neumann: Ich denke, es gibt zwei Gründe. Der erste Grund ist, dass die Israelis unter sich noch darüber diskutieren, wie groß diese Bodenoffensive sein soll, was die militärischen Ziele sind und was man damit überhaupt erreichen kann. Der zweite Grund sind die Geiseln. Es wurden bisher zweimal zwei Geiseln freigelassen und ich glaube, das war eher eine Art Test für die Hamas. Dass eigentlich ein viel größerer Deal verhandelt wird. Unter dem Einfluss von Katar, dass Dutzende, vielleicht 50 Geiseln freigelassen werden. Und das will natürlich auch die israelische Seite abwarten.

Hamas gehen bei Geiseln strategisch vor

Glauben Sie, dass die Hamas auch mit den Geiseln besonders brutal umgehen?

Peter Neumann: Wir wissen von den freigelassenen Geiseln, dass sie nicht besonders hart behandelt wurden. Die Hamas ist natürlich eine terroristische Organisation, aber was die Geiselnahme angeht, spricht eigentlich alles dafür, dass sie sehr strategisch und rational vorgeht. Dementsprechend ist es auch im Interesse der Hamas, dass die Geiseln in einem guten Zustand sind, um in einer Verhandlungsposition zu bleiben.

Wie realistisch ist es noch, dass die Geiseln befreit werden können?

Peter Neumann: Ich bin mir ziemlich sicher, dass weitere Geiseln freigelassen werden, aber ich bin mir auch sicher, dass nicht alle freigelassen werden. Wahrscheinlich werden auch Geiseln in der Geiselhaft sterben. Denn egal wie gut die Israelis bei der Befreiung der Geiseln sind, es handelt sich um eine so große Zahl in einem Gebiet, in dem die Hamas die totale Kontrolle hat. Dass bei der Befreiung etwas schief geht, ist also nicht unwahrscheinlich.



Bei Vermittlungsversuchen nicht gegenseitig im Weg stehen

Was könnte Deutschland tun, um die Geiseln zu befreien?

Peter Neumann: Man sollte sich bei den Vermittlungsversuchen nicht gegenseitig im Wege stehen. Es ist richtig, dass die Bundesregierung im Moment mit den Amerikanern und den Kataris bei der Geiselbefreiung an einem Strang zieht. Es wäre nicht hilfreich, wenn die deutsche Bundesregierung eine zusätzliche Kommunikationslinie aufmachen würde, nur um die Deutschen freizubekommen. Wenn das jedes Land macht, würde es ein großes Durcheinander geben und niemanden wäre geholfen. Jeder versteht, dass es in erster Linie darum geht, möglichst viele Geiseln zu befreien.