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Ein Arzt für Dortmunds Junkies, Arme, Prostituierte

Ein Arzt für Dortmunds Junkies, Prostituierte und Arme

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Foto: WR/Franz Luthe
Der Arm übersät mit Einstichstellen, Eiter, Blut — das sieht Dr. Martin Müller fast jeden Tag. 89 Prozent seiner Patienten sind drogensüchtig, andere sind Prostituierte, Obdachlose, Arme. Die meisten Einsätze mit dem mobilen medizinischen Dienst fallen in der Nordstadt an.

Dortmund. 

Die Arme waren übersät mit Geschwüren. Ein halbes Jahr hat Dr. Martin Müller die offenen Wunden seines Patienten versorgt. Sie waren fast verheilt, da zeigte der Mann dem Arzt vom Gesundheitsamt seine Beine: ein Flickenteppich aus Blut, Eiter und Hautfetzen. Wie 89 Prozent der Patienten von Dr. Müller ist er süchtig.

Seine Arme waren vom Fixen aufgeplatzt. Als er sie nicht mehr benutzen konnte, mussten die Beine herhalten. „Und wenn das auch nicht mehr geht, gehen die Spritzen in den Hals, in die Leiste oder die Genitalien“, weiß Dr. Ulrike Ullrich, Leiterin des sozialpsychiatrischen Dienstes des Gesundheitsamtes – und Chefin von Martin Müller.

Der Arzt versorgt Wohnungslose und Menschen in Notlagen im Rahmen des mobilen medizinischen Dienstes. Dieser wurde initiiert vom Land, und ging 2008 an den Start. Seitdem hat Müller 1380 Patienten behandelt. An zehn Standorten, hauptsächlich in der Nordstadt, hält er Sprechstunden. Darunter die Übernachtungsstellen, Beratungsstellen für Drogen und Prostitution, die Suppenküche oder der Nordmarktkiosk.

Er geht zu den Patienten, denn die meisten gehen von selbst nicht zum Arzt. Es sind Obdachlose, aber auch viele, die mal da und mal dort wohnen, Menschen, die kein Geld haben. Die Dienste von Dr. Müller können sie in Anspruch nehmen, ohne Praxisgebühr zu zahlen – auch ohne versichert sein zu müssen.

In diesem Jahr hat der 65-Jährige seinen Vertrag für zwei Jahre verlängert, statt in den Ruhestand zu gehen. Seine Stelle war ausgeschrieben, doch es hatte sich keiner beworben. Die Entlohnung liege deutlich unter dem, was ein Arzt im Krankenhaus verdient – „und für die Patienten braucht es ein spezielles Händchen“, ist Dr. Ullrich überzeugt. Mit anderen Worten: Martin Müller muss viel aushalten können. Dreck und üble Gerüche zum Beispiel. Aber das ist nur an der Oberfläche. Darunter liegen harte Schicksale, die weit schwerer zu ertragen sind.

Viele von den Patienten gelten als „nicht Wartezimmer tauglich“. Drogensüchtige warten nicht, viele Obdachlose haben schon lange nicht mehr geduscht. Oder ihre Schuhe ausgezogen. Deshalb sind ihre Füße eine besondere Schwachstelle. Sie werden nass, die Feuchtigkeit bleibt im Schuh, es bilden sich Pilze.

„Man sieht hier medizinische Fälle, die es in normalen Praxen kaum gibt“, meint Müller. Krankheiten, die bereits weit fortgeschritten sind. Der Fall eines Mitte 50-jährigen Polen hat den 65-Jährigen besonders bewegt. Jahrelang hatte der Mann in Dortmund schwarz gearbeitet, war nicht gemeldet, nicht versichert. Er bekam Krebs – ein Geschwür am Unterkiefer, größer als ein Tischtennisball.

„Der Mann starb, bevor er ins Hospiz gehen konnte.“

„Er ging ins Krankenhaus, wurde nach ein paar Tagen wieder entlassen“, erinnert sich der Arzt. Weil er nicht versichert war. „Die Behandlung chronischer Krankheit finanziert keiner“, sagt Müller. Heilbar war die Krankheit nicht mehr. Dr. Müller schaffte es allerdings, einen Platz in einem Hospiz zu bekommen. „Der Mann starb, bevor er dort hingehen konnte.“ Martin Müller fand seinen Patienten alleine in seiner Wohnung, tot auf seiner Couch.

Etwa 20 Prozent der Patienten von Martin Müller haben keine Krankenversicherung. Für Dr. Ulrike Ullrich ist es ein Problem, „das verstärkt auf uns zukommen wird.“ Schwarzarbeiter aus Osteuropa zum Beispiel, bei denen alles gut läuft, solange sie Arbeit haben. Doch dann werden sie krank…

Aber Dr. Müller kennt auch positive Fälle. Ein Mann, der ihn nun regelmäßig besucht, hat es geschafft, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. „Versoffen“ sei er gewesen, im Vollrausch gegen eine Heizung gefallen – mit schlimmen Verbrennungen. Heute, zwei Jahre nach der Behandlung, sei er trocken, arbeite und könne sich nun um sein Kind kümmern. „Ihn habe ich richtig gern“, sagt Dr. Müller, „wie viele meiner Patienten.“