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Sechs Krebs-Kranke unter den Envio-Opfern

Sechs Krebs-Kranke unter den Envio-Opfern

Klaus Brandt bei der Recherche auf dem Envio-Gelände. Foto: Dirk Bauer/WAZ FotoPool
Klaus Brandt bei der Recherche auf dem Envio-Gelände. Foto: Dirk Bauer/WAZ FotoPool
Das Drama nimmt seinen Lauf. Nach Informationen der WAZ Mediengruppe gibt es im Envio-Skandal die ersten Krebsfälle. Betroffen sind sechs Opfer der giftigen Geschäfte des PCB-Entsorgers. Immer mehr Menschen werden krank.

Dortmund. 

Dramatische neue Entwicklungen im Envio-Skandal: 360 Menschen sind mit PCB verseucht. Unter 273 Personen, die sich bisher untersuchen ließen, gibt es nach Informationen der WAZ Mediengruppe ein halbes Dutzend Krebsfälle. Weitere Krankheiten häufen sich. Unterdessen gehen von dem weitgehend unsanierten Envio-Gelände nach wie vor große Gefahren aus. Bei Recherchen vor Ort stieß die WAZ Mediengruppe auf skandalöse Zustände.

Mindestens sechs Menschen, die im Zuge des bundesweit größten PCB-Skandals der letzten Jahrzehnte vergiftet wurden, sind in jüngerer Zeit an Krebs erkrankt. Das ergaben fachärztliche Befragungen unter den bisher 273 Teilnehmern des medizinischen Betreuungsprogramms für die Envio-Opfer. Nach Recherchen der WAZ Mediengruppe handelt es sich um sechs unterschiedliche Arten von Krebs, die an unterschiedlichen Krankheitsherden ausbrachen.

Depressionen, schlechte Hormon- und Leberwerte, Hautveränderungen

Unter den sechs Tumorpatienten sind extrem hoch mit PCB belastete Personen offenbar nicht in der Mehrzahl. Deshalb wollen die Ärzte noch nichts über mögliche Zusammenhänge der Krebsfälle mit der Giftschleuder Envio sagen .

Ein offizieller Zwischenbericht über die Beschwerden von 273 Personen liegt der WAZ Mediengruppe vor. Er beschreibt Schilddrüsendefekte, motorische und psychische Störungen bis hin zu tiefen Depressionen, schlechte Hormon- und Leberwerte, Hautveränderungen und Nervenleiden.

Alle Untersuchten haben stark erhöhte PCB-Werte im Blut. Die Vergifteten wurden im Zuge der ersten Untersuchungsstaffel des Betreuungsprogramms in Dortmund von diversen Medizinern begutachtet. Ihre Befunde zeigen „statistische Auffälligkeiten“, sagt Prof. Dr. Thomas Kraus vom Aachener Uniklinikum, der Leiter der Untersuchungsreihe. Demnach häufen sich neuropsychologische und psychologische Störungen. Auch Handmotorik, Aufmerksamkeit und Intelligenz seien beeinträchtigt. Vor allem in der hoch mit PCB belasteten Gruppe nehmen psychische Leiden, darunter Depressionen, zu, und zwar „signifikant“.

Aus den Befunden resultieren rund 50 Berufskrankheiten-Verdachtsanzeigen

Auch der Zustand diverser Organe verschlechtert sich und bereitet dem PCB-Experten Sorge. „Krankhafte Befunde finden sich bei der Schilddrüsenfunktion sowie der Häufigkeit von Schilddrüsen-Autoimmun-Antikörpern, einzelnen weiteren Hormonen und den Leberwerten“, berichtet Kraus. Höher belastete Personen zeigten zudem Hinweise auf ein „aktiviertes“ Immunsystem. Das zeige an, dass im Körper etwas nicht in Ordnung sei. Und es gebe „Hyperpigmentierungen der Haut an exponierten Stellen“, genau in jenen Zonen, die ungeschützt waren, als die Patienten bei Envio im Gift standen. Auch Störungen im peripheren Nervensystem sind bei den Envio-Opfern aktenkundig.

Schilddrüse, Leber, Immunsystem und Nervensystem gelten unter Medizinern als bevorzugte Angriffsziele von PCB im Körper. Auch Hautveränderungen, wie die für das Gift charakteristische Chlorakne, werden häufig als Symptome einer PCB-Vergiftung beschrieben.

Aus den Befunden resultieren rund 50 Berufskrankheiten-Verdachtsanzeigen, die der Berufsgenossenschaft vorliegen. Weitere Anzeigen waren bereits im Vorfeld von Haus- oder Fachärzten gestellt worden.

Zweite Untersuchungsreihe im September 2011

Zwölf ärztliche Fachrichtungen haben die Ergebnisse der ersten Untersuchungsreihe des Betreuungsprogramms im Fall Envio zusammengetragen. Arbeits- und Umweltmediziner, Epidemiologen, Dermatologen, Immunologen, Endokrinologen, Kinderärzte, Kinderpsychologen, Neurologen, Neuropsychologen, Pneumologen und Radiologen waren damit im Dortmunder Knappschaftskrankenhaus sieben Monate beschäftigt.

Sie arbeiteten ein umfangreiches Paket ab. Zunächst standen berufliche und gesundheitliche Vorgeschichten, Fragen zum Arbeitsplatz, zur psychischen Belastung sowie ein medizinischer Grundcheck an. Phase zwei umfasste Ultraschalluntersuchungen von Leber, Schild- und Bauchspeicheldrüse sowie spezielle Tests zu möglichen PCB-Wirkungen auf das Nervensystem. Dioxine, Furane und so genannte Marker, die krebsfördernde Wirkungen anzeigen, wurden an der Ruhr-Uni Bochum gemessen und ausgewertet.

Im September 2011 wird das Betreuungsprogramm mit der zweiten Untersuchungsreihe fortgesetzt.

„Heute leider nicht in der Lage, einen Termin vor Ort wahrzunehmen“

Bei Recherchen auf dem weitgehend unsanierten Envio-Gelände im Dortmunder Hafen entdeckte die WAZ Mediengruppe katastrophale Sicherheitslücken, die Menschen und Umwelt gefährden. Der Arnsberger Regierungspräsident Gerd Bollermann (SPD) behauptet das Gegenteil, hat die Lage aber offensichtlich nicht unter Kontrolle.

Das erfährt die Firma ABP Induction Systems, die 800 Arbeitsplätze auf dem Gelände bindet, besonders drastisch. Weil aus einer verseuchten Halle offenbar giftiger Staub austritt, schlug sie mehrfach Alarm. Als ABP-Männer in einer übelriechenden Wolke Atembeschwerden und Kopfschmerzen bekamen, forderte die Geschäftsführung den sofortigen „Schutz der Gesundheit unserer Mitarbeiter“. Zwei Tage später meldete sich der zuständige Arbeitsschützer der Bezirksregierung. Er sei „heute leider nicht in der Lage, einen Termin vor Ort wahrzunehmen“.

Am Tag drei nach der Staubattacke gab es ein Gespräch. „Geändert hat sich nichts“, klagt ABP-Chef Wolfgang Andree.

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