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Liebe auf den ersten Blick

Liebe auf den ersten Blick

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Foto: Hans Blossey

Autor Thorsten Gerald Schneiders über den magischen Moment: Wie das Gehirn entscheidet, ob wir jemanden mögen

Es ist dieser eine magische Moment. Zwei Blicke treffen sich, und plötzlich ist es um zwei Menschen geschehen. Es überfällt sie eine Schmetterlingsinvasion im Bauch. Ihre Hände werden feucht. Die Mundwinkel verziehen sich zu einem unkontrollierten Dauerlächeln, und auf einmal versagt das Sprachzentrum im Hirn. Gestammelte Worte, kurze Sätze und die bange Feststellung: „Mein Gott, was red’ ich für Stuss!?“ Für die einen ist Liebe auf den ersten Blick bloß ein Mythos, für Mürvet und Ünal Alpaslan ist sie Realität.

Die beiden Ahlener haben sie vor sieben Jahren erlebt. „Und hier ist das Ergebnis“, sagt das Paar und hält voller Stolz Timur, ihren einjährigen Sohn, hoch. Die Alpaslans haben sich „arrangiert“ kennen gelernt. Ihre Eltern stammen aus der Türkei, auch sie haben sich auf die traditionelle Weise gefunden. „Ich würde sagen, vor allem aus Neugier haben wir eingewilligt, dass unsere Eltern uns eine Braut bzw. einen Bräutigam vorschlagen“, berichtet Architekt Ünal Alpaslan und blickt seine Frau fragend an. „Doch, doch“, beruhigt die Zahnarzthelferin, „sie haben mich damals angesprochen, und ich hab mir halt einfach gesagt, angucken kannste dir den ja mal.“ Darauf machten die Eltern das Treffen klar.

Eines Nachmittags stand er, damals 28 Jahre, nun bei ihr vor der Haustür, mit Blumen in der Hand und mit unruhigen Händen den Anzug zurecht zuppelnd. Sie sei damals nicht nervös gewesen, sagt die heute 29-jährige Frau. „Er kam rein, begrüßte höflich meine Eltern, überreichte ihnen die Blumen, dann sah er mich an, lächelte und gab mir die Hand. Naja, was soll ich sagen, da hat es einfach Zoom gemacht“, sagt Mürvet und lässt ihre Hand wie ein Flugzeug durch die Luft rauschen. Nach dem Tag X haben sie sich mehrmals getroffen, sich kennen gelernt, und gut ein Jahr später schepperten Aludosen hinter ihrem Hochzeitwagen.

Zufall? Einbildung? Selbsttäuschung? Viele Menschen glauben nicht an das Phänomen, das schon die Alten Griechen und die Alten Römer umtrieb. Der Philosoph Plato etwa und der Dichter Ovid ließen sich darüber aus. Auch Shakespeare ließ seine Helden Romeo und Julia auf den ersten Blick in ewige Liebe verfallen. Heute sind laut einer amerikanischen Studie rund 62 Prozent der Männer und 56 Prozent der Frauen davon überzeugt, die Liebe auf den ersten Blick selbst erfahren zu haben. Mindestens 30 Sekunden, in der Regel drei Minuten sollen ausreichen, glauben Forscher, um den anderen einschätzen zu können und sich seiner Vorstellung ihm gegenüber bewusst zu werden.

Ob wir jemanden mögen oder nicht, entscheidet das Gehirn

Ob man jemanden mag oder nicht, so Verhaltenforscher Karl Grammer, entscheide unser Gehirn allerdings, ohne dass man selbst viel davon mitbekommt. Mit Kollegen führte Grammer Anfang der 90er Jahre an der Forschungsstelle für Humanethologie des Max-Planck-Insituts im bayrischen Andechs bei Starnberg ein Flirtexperiment mit Schülern durch. Sein eindeutiges Ergebnis: Es gibt die Liebe auf den ersten Blick. Außerdem fanden die Wissenschaftler heraus: Je anziehender eine Frau einen Mann findet, desto eher sucht sie seinen Blickkontakt.

Erste Reize gehen von den optischen Signalen aus: Hat er ausdrucksvolle Gesichtszüge: kantiges Kinn, kräftigen Kiefer, markante Nase? Hat sie schöne Augen, ausgeprägte Lippen, einen feinen Kiefer? In der Folge wandert der Blick über den Körper. Erst danach stellt das mögliche Liebespaar fest, ob die Stimme des Anderen angenehm ist oder man sich im wahrsten Sinne des Wortes riechen kann. Wenn ja, und wenn dann auch noch eine zufällige Berührung etwa am Arm dazukommt, könnte es schon passiert sein. Der Kommunikationsforscher Artemio Ramirez sieht es etwas unromantischer. Er glaubt, Liebe auf den ersten Blick sei das, was man in der Psychologie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung nennt – also jemand redet sich so lange etwas ein, dass es durch eigenes, unbewusstes Hinzutun tatsächlich passiert. Artemio Ramirez: „Wir treffen eine Entscheidung, welche Beziehung wir zum Gegenüber einnehmen wollen. Das hilft uns zu bestimmen, wie viel Energie wir in die Sache investieren. Will ich Freundschaft schließen, fange ich automatisch an, stärker zu kommunizieren, mehr über mich zu erzählen.“ Nach Ansicht des Professors wird dann am Ende daraus die große Liebe, die auf den ersten Blick begonnen hat. Oder es wird nichts daraus, und die Begegnung wird für immer aus dem Gedächtnis getilgt.

Wie dem auch sei. Die Ahlener Mürvet und Ünal Alpaslan halten es sowieso lieber mit Goethe: „Grau, treuer Freund, ist alle Theorie.“ Den beiden ist die Wissenschaft in diesem Punkt egal: „Hätte er mir nicht gefallen, hätte ich ihn eben davongejagt“, zwinkert Mürvet, um gleich darauf zu ihrem Mann zu schauen … der ganz entspannt lächelt und nickt.