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Warum wir uns beim Blick aufs Meer frei und glücklich fühlen

Warum wir uns beim Blick aufs Meer frei und glücklich fühlen

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Foto: dpa
Die See ist lauter als eine viel befahrene Straße, doch Meeresrauschen ist wie Musik in unseren Ohren. Das weite Meer lässt uns klein und zugleich erhaben fühlen. Zwei von drei Urlaubern zieht es jedes Jahr an die Küste. Denn das Meer ist unser größter Sehnsuchtsort.

Endlich. Die Sicht ist frei bis zum Horizont, wo sich Dunkelblau und Hellblau treffen. Die Sonne glitzert auf den Wellen, während der Wind die weißen Wolken über den Himmel weht. Wo sind die Gedanken von gestern hin? Jetzt gibt es nur noch eine Frage in meinem Kopf: Wie lange dauert es wohl, bis das kühle Wasser meine Füße im Sand verschwinden lässt?

Das Meer lässt uns klein und zugleich erhaben fühlen. Sein Rauschen ist so laut wie Straßenlärm, und doch klingt es wie Musik in unseren Ohren. Jeder kennt es, aber es birgt viele Geheimnisse, die noch kein Mensch lüften konnte. Zwei von drei Urlaubern fahren jedes Jahr an seine Küste. Denn die See ist unser größter Sehnsuchtsort.

Da kann die Touristikbranche noch so viele schicke Hotels bauen und Animationsprogramme ausarbeiten. Was die Menschen im Urlaub glücklich macht, wohin sie sich am meisten zurücksehnen, sind die Momente in der Natur. Dies ist das Ergebnis einer Studie des promovierten Geografen Wolfgang Isenberg im Auftrag eines großen Touristikunternehmens: „Die Menschen erinnern sich besonders an Meer-, See- und Gipfelblicke, Aufenthalte am Strand, Sonnenuntergänge und -aufgänge“, sagt der Leiter der Thomas-Morus-Akademie in Bensberg. Der Moment am Meer beeindruckt Menschen mehr als sportliche Aktivitäten, mehr als eine harmonische Zeit mit Partner, Kindern und Freunden.

Doch was macht den Ozean so besonders? Eigentlich ist es ja nur Wasser. Viel Wasser, das rund zwei Drittel unseres Planeten bedeckt. „Mit Hilfe des Wasserinhalts der Ozeane könnte jeder Einzelne der 7 Milliarden Erdenbürger in seinem Leben 10 Millionen Mal ein Vollbad nehmen“, versuchen Antje und Henning Boetius, Tochter und Vater, Tiefseeforscherin und Geisterwissenschaftler, die unfassbare Menge greifbar zu machen. Wer schon mal von einer Welle erwischt worden ist, weiß: Dieses Wasser schmeckt nicht mal. Ein Liter Meerwasser – schreiben Boetius & Boetius in ihrem Buch „Das dunkle Paradies“ – enthält ungefähr zehn Esslöffel reines Kochsalz. Obwohl es ohne Wasser kein Leben gäbe, diese Salz-Dosis ist für einen Menschen tödlich.

Wie genießen den unverbauten Blick, diese Weite

Aber wer würde schon freiwillig einen Liter Meerwasser trinken? Uns genügt der salzige Geschmack, mit dem das Meer die Luft am Strand würzt. Wir genießen den unverbauten Blick, diese Weite – und fühlen uns frei. Wir lassen uns vom Blau der See beruhigen, von den gleichmäßig anrollenden Wellen entspannen. Ruhe und Entspannung – das verbinden die meisten Menschen mit dem Meer, wie eine Studie des Psychologen Florian Schmid-Höhne zeigt: „Das Meer bildet eine Gegenwelt zu unserem Alltag.“ Und was uns zu viel wird, streifen wir an der See ab.

Wenn wir auf die See schauen, blicken wir in unsere Seele 

Wenn wir auf die See schauen, blicken wir in unsere Seele. Florian Schmid-Höhne hat daher seinen Arbeitsplatz von München an den Strand verlegt. Auf Sylt oder an der Küste Portugals coacht er Menschen, die im stressigen Alltag untergehen und ihr Leben wieder ins Lot bringen möchten.

„Es ist viel leichter, von sich zu erzählen, wenn man am Strand spazieren geht, als wenn man in einem Seminarraum oder Therapieraum sitzt“, begründet der Psychologe seine Entscheidung. „Die Fläche des Meeres dient als Projektionsfläche, um über sich, um über die eigenen Gefühle nachzudenken.“

Dass sich die Menschen am Meer besser selbst wahrnehmen, ihre Wünsche eher wieder spüren, war ein weiteres Ergebnis seiner Studie. Zudem nutzen die Menschen das Meer als Energiequelle. Schmid-Höhne, der auf den ersten Blick mit seiner drahtigen Figur und dem langen, blonden Haar an einen Surfer erinnert, kombiniert sein Coaching mit Wellenreiten. „Die Leute spüren die Kraft des Wassers, lassen sich von den Wellen tragen und haben das Gefühl, mit neuer Energie wieder herauszukommen.“ Sein nächster Auftrag führt Schmid-Höhne zu den Azoren. Dort warten Stammkunden auf ihn: Geschäftsführer, die ihren Horizont erweitern wollen.

„Stundenlang können wir aufs Meer schauen, ohne uns zu langweilen“, sagt Schmid-Höhne. Mal kräuselt sich nur die Wasseroberfläche, mal bilden sich Schaumkronen bis zum Horizont. Und dann brechen die Wellen mit einer riesigen Kraft und rauschen über den Strand, dass es uns fast die Beine wegreißt. Wir verstehen kaum unser eigenes Wort. Und doch fühlen wir uns gelöst.

Das Meeresrauschen lässt uns sogar Schmerzen vergessen

Das Stimmengewirr in einem Großraumbüro ist viel leiser als die Brandung. Aber durch das Gemurmel fühlen wir uns oft belästigt, wir können uns schlechter konzentrieren. Dagegen entspannen uns die lauten, heranrollenden Wellen. Und sie lassen uns sogar Schmerzen besser ertragen. Das hat eine Studie an der Uni Witten-Herdecke gezeigt. Patienten im Zahnarztstuhl wurde Meeresrauschen vorgespielt – die Angst vor dem Bohrer sank.

So laut wie Straßenlärm und doch schön: Meeresrauschen 

Lärmwirkungsforscher haben herausgefunden, dass nicht allein die Lautstärke bestimmt, ob wir ein Geräusch als Krach empfinden. Wenn ein Radiosender ein Lied spielt, das wir besonders mögen, drehen wir den Lautstärker ja auch auf. Ob „Ein Tag am Meer“ von den Fantastischen Vier, „Die perfekte Welle“ von Juli oder „La Mer“ von Charles Trenet – es kommt immer darauf an, was wir mit der Melodie, mit dem Geräusch verbinden, woran es uns erinnert, ob wir uns dabei gut fühlen. Und das Meer und sein Rauschen lässt uns an den letzten Urlaub denken, als wir uns frei und frisch fühlten. Es erinnert uns an die Tage unserer Kindheit, als wir am Strand Burgen bauten.

So geborgen haben sich die Menschen beim Blick auf die See nicht immer gefühlt. „Früher hatten sie große Angst vor dem Meer“, erinnert der Psychologe Schmid-Höhne. Die Piratengeschichten, denen wir heute so gerne lauschen, waren kein romantisches Abenteuer. Wenn früher ein Schiff in See stach, wusste die Familie nicht, ob der Abschied für immer war. Welchen Ungeheuern werden die Seefahrer begegnen? Was wird sie am Horizont erwarten? Wird ein Abgrund sie in die Tiefe reißen?

Diese Vorstellung ändert sich Ende des 18. Jahrhunderts. Das Meer „ist nicht länger nur ein Ort des Handels und der Kriege“, so Boetius & Boetius. „Die Landratten fangen an, baden zu gehen.“ Die Menschen entdecken die Heilkraft des Meeres. Bis heute loben Mediziner die jodhaltige Luft an der Küste und empfehlen Menschen mit Asthma oder Schuppenflechte einen Urlaub an der See. Die ersten Seebäder in Europa entstehen in England, 1793 öffnet das erste deutsche Bad in Heiligendamm an der Ostsee. Und das Bild vom Meer wandelt sich mehr und mehr.

Caspar David Friedrich hat die Sehnsucht nach der See, die Stimmung am Strand gleich in mehreren Gemälden verewigt. „Der Mönch am Meer“ von 1808 zeigt einen Mann fast verschwindend klein vor dieser großen Naturgewalt. Die aufgewühlten Wogen und Wolken lassen seine Gedanken und Gefühle erahnen – und in seine Innenwelt blicken. Andere Maler und Dichter schöpfen ebenfalls aus dieser Inspirationsquelle, auch noch lange Zeit nach der Romantik. So schreibt etwa Ernest Hemingway 1952 in seiner Novelle „Der alte Mann und das Meer“: „Er dachte an die See immer als an la mar, so nennt man sie auf Spanisch, wenn man sie liebt. Manchmal sagt einer, der sie liebt, böse Dinge über sie, aber er sagt es immer, als ob es sich um eine Frau handle.“

Romantik ist, wenn im Meer die Sonne untergeht

Dass das Meer ein begehrenswerter Ort ist mit Romantik versprechenden Sonnenuntergängen, prägt unsere Vorstellung bis heute. Ein Mensch braucht nicht mal an der Küste gewesen zu sein, um vom Zauber des Meeres zu wissen. Der erst kürzlich verstorbene Meeresforscher Hans Hass verwandelte mit seinen Tauchexpeditionen bereits in den 50er-Jahren den Fernseher in ein Aquarium. Und die Werbung lehrt uns heute: Das Meer ist das letzte Paradies auf Erden. Ob Sahneeis oder Mixgetränk – es wird am Strand oder auf dem Segelschiff genossen, mit einem Schuss Erotik, in Form von viel nackter, gesunder, brauner Haut.

Manche haben gelernt, der Naturgewalt mit Demut zu begegnen 

Auch die Zahl der Passagiere bei Hochseekreuzfahrten steigt und steigt. 2012 gingen laut des Deutschen Reiseverbands 1 544 269 Deutsche an Bord, das waren über 150 000 mehr als noch ein Jahr zuvor. Die Katastrophe der „Costa Concordia“ im Januar 2012, bei der vor Italien über 30 Menschen starben, hat die Begeisterung nur für kurze Zeit getrübt. Und auch nach dem vernichtenden Tsunami 2004 wurden an der Küste des Indischen Ozeans schon bald wieder die Liegestühle aufgestellt. Die Faszination, die vom Meer ausgeht, ist stärker als unsere Angst vor Unfällen und Monsterwellen.

Manche haben gelernt, der Naturgewalt mit Demut zu begegnen. „Wenn der Wind richtig losgeht, der Seegang, dann merkt man erst, wie klein man ist“, sagt Hans Schröder. Schon als Junge fuhr er mit seinem Vater hinaus auf die Nordsee – und nun als Vater mit seinen Söhnen. „Wir sind reinweg von der Natur abhängig“, erzählt der 56-jährige Fischwirt – abhängig vom Fang, vom Wetter. „Man bringt die Erfahrung ins Spiel, aber alles kann man nicht steuern.“ Das Hochwasser bestimmt, wann sein Krabbenkutter aus dem Hafen in Fedderwardersiel fährt.

„Bei Windstärke 7 ist Feierabend. Weil die Tiere selbst Schutz im Wasser suchen. Da fängt man kaum noch was“, erzählt Hans Schröder. „Die Tiere haben das schlechte Wetter bereits 24 Stunden vorher im Kopf. Die Möwen werden aggressiv und pulen sich schon die Fische aus den Netzen, wenn man sie hochholt. Da weiß man: Halt, da kommt anderes Wetter.“ Im Hafen schnackt der Norddeutsche über die Schönheit der Natur, schwärmt von den Sonnenaufgängen auf See, von den Seehunden, vom Leben im Meer. Und überhaupt, wie schön das bei Sonne aussieht: „Das leuchtet jetzt so.“ An Land könne er nicht arbeiten. Niemals.

Hier können Entdecker noch entdecken

„Sie lieben das Meer, Kapitän?“, fragt Professor Aronnax. „O ja, ich liebe es. Das Meer bedeutet mir alles . . . Es ist eine unermessliche Wüste, wo der Mensch niemals einsam ist, denn er fühlt, wie das Leben um ihn herum pulsiert“, antwortet Kapitän Nemo in der Nautilus — dem Prototypen der Unterwasserfahrzeuge, den Jules Verne bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts erdachte für seine Geschichte „20 000 Meilen unter dem Meer.“

Auch heute zählt das Meer zu den letzten Orten des Planeten, an denen Entdecker noch etwas entdecken können. Dafür müssen sie abtauchen, in die Unterwasserwelt, wo das Rauschen des Meeres der Ruhe weicht. Tiefer, als sie mit Sauerstoffflasche tauchen können. Dort, wo kein Clownfisch und kein Delfin dem Pottwal hin folgt: hinein in die Tiefsee.

Menschen haben bereits ihren Fuß auf den Mond gesetzt, doch es gibt Meeresboden, den noch keiner betreten hat. Denn der tiefste Punkt des Meeres ist tiefer als der höchste Berg hoch ist. Kein Mensch würde diesen Druck überleben. Lange Zeit dachte man deshalb, dass es in der tiefen Dunkelheit kein Leben gibt. Doch als in der Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten transatlantischen Kabel zwischen Irland und Neufundland verlegt wurden, machte man bei Reparaturarbeiten eine unglaubliche Entdeckung: Seltsame Tiere waren an den Kabeln festgewachsen.

Der Riesenkrake ist kein Seemannsgarn

Bis heute finden Tiefseeforscher mit Kameras, ferngesteuerten Tauchrobotern und U-Booten bizarre Krebse und Fische. Und auch der Riesenkrake, um den sich viel Seemannsgarn spannt, ist nicht ins Reich der Märchen zu verbannen. Zehn Meter kann er lang werden. Damit ist er vier Meter kleiner als der Riesenkalmar, den Forscher bisher kaum lebend sahen. Er hat sogar zwei Arme mehr als der Krake – zehn Arme! „Noch längst sind nicht alle Arten von Leben im Ozean entdeckt“, schreiben Boetius & Boetius, „noch ist die Oberfläche des Mondes besser kartographiert als der Tiefseeboden.“

Meine Füße sind im Sand verschwunden. Die Wellen spülen eine blau-weiß gestreifte Muschel an Land. Sie wird mich erinnern, wenn ich wieder am Schreibtisch sitze – an meinen Tag am Meer.

Angemerkt: Ein Freund in Seenot 

Würden wir einem Freund, der uns glücklich macht, bis an seine Grenzen ausnutzen und ihm Gift einflößen? Genau das tun wir mit den Weltmeeren. Wir verdrängen das nur allzu gerne, wenn wir am Strand liegen.

Unter der schönen Oberfläche schwimmen nicht nur Fische, von denen wir uns ernähren – und die durch Überfischung bedroht sind. Jahrzehntelang wurde Giftmüll in die Ozeane gekippt. Korallenriffe sind durch die Klimaerwärmung gefährdet. Und immer mehr Plastikmüll belastet die Weltmeere. Im Pazifik schwimmt so viel Kunststoff, dass der Müll wie ein riesiger Plastikteppich aussieht. Und selbst in der Tiefsee zeigen Unterwasserroboter alle paar 100 Meter Folien und Flaschen. Dazu kommt noch der winzige Plastikabrieb, der nicht verrottet und die Meeresbewohner tötet.

Was hat Fukushima im Pazifik angerichtet?

Und das ist nur die Spitze des Eisberges: Mit dem Reaktorunfall 2011 in Fukushima ist radioaktiv verseuchtes Wasser in den Pazifik geflossen. Was das angerichtet hat, ist noch gar nicht abzusehen. Genauso wenig wie die schlimmste Erdölkatastrophe aller Zeiten, als vor drei Jahren nach der Explosion einer Ölbohrplattform über 500 000 Tonnen Öl in den Golf von Mexiko flossen . . .

Nach Rohstoffen wird weiter gebohrt, Poseidons Schatzkammer geplündert. Wenn wir nicht bald umdenken! Und dafür ist es höchste Zeit. Wenn nicht der Umwelt zuliebe, dann aus ganz egoistischen Gründen: Weil uns der Blick auf ein sauberes Meer glücklich macht.