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Extra-Schicht – ein Verkehrsnetz nur für eine Nacht

Extra-Schicht – ein Verkehrsnetz nur für eine Nacht

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Foto: WAZ FotoPool
200 000 Besucher werden zur Extra-Schicht erwartet. Das Ruhrgebiet ist mobil – dank Michael Gast und Jürgen Skala. Die Verkehrsplaner sind Herr über 170 Busse und 34 000 Kilometer Strecke.

Gelsenkirchen. 

Als sie Michael Gast und Jürgen Skala die Idee, die sie ruhrgebietsgetreu Extra-Schicht nannten, vorstellten, winkten die beiden erfahrenen Verkehrsplaner reflexartig ab. „Damit“, hoben sie an, „können wir nur auf die Schnute fallen!“ Wie, verflixt nochmal, sollte es ihnen gelingen, ein Verkehrsnetz mit 50 Bussen für nur eine einzige Nacht zu kreieren, das zig Tausende Menschen durchs gesamte Ruhrgebiet chauffiert? „Nie“, sagten sie. „Irgendwie“, sagte ihr Chef. Oben sticht unten. Ende der Diskussion.

Es ist Juni, zwölf Jahre später, als sie diese Anekdote verraten. Und allein, dass die beiden 58-Jährigen diese Geschichte in der Gelsenkirchener Zentrale des Regionalverbandes Ruhr (RVR) erzählen, verrät: Sie haben es getan. Nicht einmal. Nein, zwölf Mal. Die zwölfte Extra-Schicht, die lange Nacht der Industriekultur, steht unmittelbar bevor. Aus den Kritikern sind heute Fans geworden, aus der Nischenveranstaltung das größte Kulturfest Deutschlands, vielleicht sogar Europas. Statt der anfangs 50 Busse fahren nun 170, statt ein paar Tausend erwarten die Veranstalter diesmal mehr als 200 000 Besucher. Wer irgendwann behauptet hat, man wachse mit seinen Aufgaben, der muss diese beiden Verkehrsplaner gekannt haben.

Bus als Teil der Entdeckungstour

Wer es böse mit dem Duo meint, würde mutmaßen: Die Tüftelei hat sie grau gemacht. Wer es gut meint, sagt: Sie bringen die Region auf Spur. Und jene Spur ist lang geworden: 34 000 Kilometer legen allein die 22 Buslinien in dieser einen Kulturnacht zurück. Es geht von Duisburg nach Hamm, von Dorsten nach Witten. Hinzu kommen mehrere S-Bahnen, 140 Fahrräder, 25 E-Bikes und acht Schiffe. „Wir bringen die Menschen nicht nur zu den Spielorten, wir sind der größte Spielort“, sagt Jürgen Skala. Der Bus als Ort der Einkehr, des Gesprächs, ja, der Kultur selbst. „Das Herumreisen im Bus ist das zentrale Element, es ist Teil der Entdeckungstour“, sagt auch Arne van den Brinken, Extraschicht-Projektleiter der Ruhr-Tourismus GmbH.

Der neue Plan ist bunter denn je. Doch auch diesmal war anfangs das Blatt am Reißbrett weiß. Wieder kamen neue Spielorte hinzu, die ins Streckennetz eingebunden werden wollten. Wieder fielen welche weg. Wieder war der Plan des Vorjahres hinfällig. Und erneut machten Spielorte Probleme – wie die Zeche Carl in Essen, die eigentlich so zentral liegt und doch auf keine Verkehrsachse passte. „Bislang haben wir es aber immer geschafft, jeden Spielort anzufahren – wenn auch mit Bauchschmerzen, weil dadurch so viele zusätzliche Kilometer anfallen“, sagt Skala. Denn: Der Etat ist knapp kalkuliert. Noch so eine Bürde.

Note 1,9 für das Verkehrsnetz

Tüfteln, zeichnen, wieder radieren, debattieren, erneut tüfteln, neu zeichnen. Zwei Monate geht das so. Auch wenn es schwer zu glauben ist: Es seien zwei schöne Monate, die „Pralinen im Berufsalltag“, sagen beide. Manchmal nennen sie das Verkehrsnetz auch: „unser Baby“.

Nicht immer lief alles reibungslos – wie auch? 2007, am Dortmunder Hafen, musste die Polizei den Verkehr leiten, weil die Menschenmasse zu groß wurde. 2003, als die Busse noch im 30-Minuten-Takt fuhren, verdoppelte sich die Besucherzahl unerwartet. Auf jeden Bus warteten doppelt so viele Fahrgäste. Nichts ging mehr. „Die Dönerbude ist uns heute noch dankbar“ , kann Gast inzwischen darüber lachen. Seitdem fahren die Busse jede Viertelstunde. „Damit stehen wir jetzt wieder am Rande der Leistungsfähigkeit“, hadert das Duo.

Am 30. Juni sitzen sie wieder in der Leitzentrale, dirigieren, loten aus. An den Spielorten erhalten die Künstler in dieser Nacht Applaus. Die zwei Plankünstler bekommen lediglich Noten von den Besuchern. Zuletzt eine 1,9. Ob es noch besser geht? Am liebsten würden sie sagen: „Nie.“ Aber sie kennen ja ihren Chef.