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Der Terroranschlag, bei dem das Vertrauen starb

Der Terroranschlag, bei dem das Vertrauen starb

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Initiative Keupstrasse ist ueberall Foto: Kai Kitschenberg
Im Münchener NSU-Prozess geht es jetzt um das Nagelbombenattentat von Köln. Ein Anschlag, der die Menschen dort bis heute verunsichert.

Köln. 

Mitat Özdemir sitzt im Imbiss, bestellt Ayran und einen Fladen mit Lammspieß und erzählt seine Geschichte. Er ist gerade dabei, den Vorsitz der Interessengemeinschaft Keupstraße an seine Nachfolgerin Meral Sahin abzugeben. Er ist 67, seit 50 Jahren ist der gebürtige Anatolier Kölner. „Mein Vater hat immer von Deutschland geschwärmt, da ist es ordentlich und die Menschen sind freundlich und alles ist korrekt“, sagt er.

Und alles stimmte für ihn – bis zu jenem 9. Juni 2004 – an dem Tag als in dieser Straße die Nagelbombe des NSU 22 Menschen verletzt. „Dieses Land hat mir Chancen gegeben, die ich in der Türkei niemals gehabt hätte. Ich habe studieren können und mir mein Geschäft aufgebaut. Und ich habe Vertrauen in die Behörden gehabt.“ Er hat hier Frau, Söhne, vier Enkelkinder und engagierte sich im Gestaltungsbeirat für den Ortsteil Mülheim. Und in der Interessengemeinschaft Keupstraße.

Eine der lebendigsten Straßen in Köln-Mülheim

1978 gegründet, weil die damaligen Händler Sorge hatten, unter den Migranten könnte das Image der Keupstraße leiden, jener Straße, die fast am Rhein beginnt. Mit einem Seniorenzentrum des Arbeiter-Samariter-Bundes. Sie endet am Kiosk von Mitat Özdemir – dazwischen liegen die rund 800 Meter Straße. Und mittendrin jener Ort, an dem am 9. Juni 2004 die Nagelbombe der Neonazi-Terroristen 22 Menschen schwer verletzte.

Heute, erzählt Peter Bach von der Geschichtswerkstatt Köln-Mülheim, ist die Keupstraße wieder eine der lebendigsten Straßen im Stadtteil. Gerade weil die 107 Geschäfte „Dügün Evi“, „Sagdic Import & Export“ und „Urfa Antep“ heißen. Weil es hier vom Brautmoden-Factory-Outlet über das Restaurant bis zum Fachgeschäft für orientalische Musik Dutzende inhabergeführte Geschäfte gibt statt anonymer Filialen.

Seit zwei Jahrzehnten sind Özdemir und weitere Migranten in der IG Keupstraße aktiv. Das Ziel ist gleich geblieben: Daran arbeiten, dass die Straße floriert. Nicht trotz der Migranten, sondern dank der Migranten – weswegen unter der Weihnachtsbeleuchtung ein Transparent an die Opfer der Bergwerksunglücke in der Türkei erinnert.

Es wird nur in eine Richtung ermittelt

In dieses ökonomische Herz der Migranten der zweiten und dritten Generation hinein pflanzten die NSU-Neonazis ihre Nagelbombe. Das war das erste Trauma. Das zweite Trauma kam danach – und will bis heute nicht heilen. „In der ersten Meldung hieß es noch, es sei ein terroristischer Anschlag“, erzählt Peter Bach. Kurz danach ziehen die Behörden, vom Bundesinnenminister angefangen, diese Einschätzung zurück.

Es wird nur noch in eine Richtung ermittelt: Es muss sich um eine Tat im kriminellen Migrantenmilieu handeln, lautet die nie hinterfragte Arbeitshypothese der Ermittler. Andere Spuren werden nicht ausgewertet. Die Folge: Die Opfer des Anschlags werden zu Verdächtigen, werden immer wieder befragt, überwacht. „Wir haben immer gesagt: Es war ein Terroranschlag“, sagt Özdemir. „Aber niemand hat uns geglaubt.“

Friseur Özcan Yildirim, vor dessen Fenster das Fahrrad mit der Bombe im Hartschalenkoffer abgestellt wurde, wiederholte mehrfach, der Täter habe blonde Haare gehabt. Die Ermittler beharrten jedoch darauf, der Täter müsse dunkle Haare gehabt haben. „Als ob ein Friseur sich bei der Haarfarbe täuschen könnte“, staunt Peter Bach noch heute. Immer wieder, so Özdemir, forderten die Ermittler einen Namen, wollten einen Verdächtigen aus den Reihen der Migranten. Und diese erlebten Schikanen: Die Finanzämter prüften die Bücher der Geschäftsleute besonders oft und besonders sorgfältig.

„Die Menschen sollen mit uns reden“

Erst 2008 wurden die Ermittlungen eingestellt. „Die halten alle dicht“, soll der ermittelnde Oberstaatsanwalt Rainer Wolf resigniert gesagt haben. „Der Mann ist kein Rassist“, sagt Peter Bach. „Aber was ist das für eine Atmosphäre, in der selbst Nichtrassisten nur so denken?“ Die Kränkungen für die Bewohner der Keupstraße gehen weiter, selbst nachdem sich im Jahr 2011 herausstellt, dass der NSU für diese und andere Bluttaten verantwortlich war. „Da wollte plötzlich die Antifa durch unsere Straße marschieren“, erzählt Özdemir. „Denen habe ich gesagt: Das verbiete ich euch. Wo wart ihr, als der Anschlag passierte?“ Gleiches gelte für die Politiker, die erst dann kamen: „Die wollten meist nur fotografiert werden“, erzählt er, berichtet aber auch von einer Politikerin aus Berlin, die Fahrer und Bodyguards wegschickte und nur mit ihm zu den Menschen in der Straße gegangen ist. Um zuzuhören.

„Augenhöhe“, sagt Özdemir immer wieder. „Die Menschen sollen mit uns reden – nicht von oben herab.“ Mittlerweile gelingt das auf vielen Ebenen: Das Schauspiel Köln – mit dem Migranten Nuran David Calis als Regisseur – hat die Ereignisse aus der Keupstraße zu dem Stück „Die Lücke“ verarbeitet, seit Juni 2014 steht es auf dem Spielplan – ausverkauft.

„Viele meiner muslimischen Freunde haben Bauchschmerzen“

Vor dem Theaterstück gibt es eine Führung durch die Straße. Und Peter Bach hat die Initiative „Keup-straße ist überall“ gegründet, mittlerweile gibt es sie in 14 Städten. Die Kernforderung fasst Mitat Özdemir so zusammen: „Wir wollen eine offene Gesellschaft“, sagt Özdemir. Das bedeutet auch: Freiheit von Vorurteilen, gerade in diesen Tagen. „Viele meiner muslimischen Freunde haben Bauchschmerzen wegen der Ereignisse in Paris“, sagt Özdemir.

Weil Terror, egal in welchem Namen, Gräben aufwirft zwischen den Menschen eines Landes, einer Stadt, einer Straße. Das geht leicht, wo das Vertrauen bereits starb. Deswegen geht es für Özdemir und viele andere Menschen aus der Keupstraße in München um mehr als um das Strafmaß für Beate Zschäpe. Es geht darum, dass die Institutionen dieses Landes wieder das Vertrauen der hier lebenden Menschen gewinnen.