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Vom Neonazi zum Philosophie-Studenten – Ein Aussteiger erzählt

Früher Neonazi, heute Student – Ein Aussteiger erzählt

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Aussteiger aus der rechten Szene
Über Jahre steckte Steven Hartung tief in der rechten Szene – bis die großen Zweifel kamen und er ausstieg. Die Vergangenheit holt den früheren Kameradschaftsleiter immer wieder ein. Auch durch den NSU-Prozess: Einer der Angeklagten ist ein alter Bekannter – Ralf Wohlleben.

Berlin/Jena. 

Steven Hartung ist gerade mal 25, aber er hat schon ein erstes Leben hinter sich. Kameradschaften, rechte Aufmärsche, ideologische Kämpfe – das war seine alte Welt. Heute studiert er Philosophie in Jena und versucht, die Vergangenheit abzuschütteln. Das ist nicht einfach.

Hartung kommt aus einem kleinen Dorf in Thüringen. Bei der Feuerwehr oder im Fußballverein bekam er oft rechte Sprüche zu hören. „Die meisten Erwachsenen waren da eher rechts eingestellt“, erzählt er. Den ersten richtigen Kontakt zur Szene hatte Hartung mit 13, als ihm jemand an der Schule eine CD in die Hand drückte. Anfangs hörte er rechte Musik mit Freunden, mit 15 nahm ihn ein Kumpel zu einer Kameradschaft.

Dort stieg er ein – und schnell auf: Mit 17 war Hartung selbst Leiter der Kameradschaft, organisierte Vorträge, Demos und Konzerte und lockte neuen Nachwuchs an.

„Ich habe meine Ersatzfamilie in der Szene gefunden“

„Damals war ich komplett vereinnahmt“, sagt er. „Ich habe meine Ersatzfamilie in der Szene gefunden. Ich dachte, nur wir kennen die Wahrheit und alle anderen sind verblendet.“ Zu den tumben Schlägern gehörte Hartung weniger, eher zu den Ideologen und Propagandisten. Er las viel, diskutierte, agitierte.

Seine Eltern waren einigermaßen hilflos. „Sie haben versucht, dagegen zu argumentieren, aber irgendwann haben sie es nicht mehr geschafft“, sagt er. „Sie hatten zwar keinen Einfluss mehr auf mich, aber sie haben mich nicht aufgegeben. Das war das Gute.“

Er verliebte sich in eine Antifa-Aktivistin

Nach ein paar Jahren fingen die Zweifel an. Hartung beschäftigte sich viel mit den Argumenten seiner „Feinde“. Eigentlich um sie zu entkräften, doch stattdessen geriet sein eigenes Weltbild ins Wanken.

Hartung stellte seine bisherigen Überzeugungen infrage. Die Leute in seiner Kameradschaft verstanden ihn nicht mehr. Und dann tauchte eine junge Frau in seinem Leben auf: eine Antifa-Aktivistin, die er noch von der Schule kannte. Anfangs diskutierten die beiden nur, dann verliebten sie sich.

Aussteigerprogramm war vor dem Aus

Vor drei Jahren zog sich Hartung aus der Kameradschaft zurück, brach den Kontakt zur Szene ab und suchte Hilfe beim Aussteigerprogramm Exit. Die Initiative hilft seit 13 Jahren Menschen, die sich gegen den Rechtsextremismus und für ein neues Leben entscheiden.

Vor einigen Wochen stand Exit vor dem Aus, weil die staatliche Förderung auslief. Der Aufschrei war aber laut genug, um den Bund zum Weiterzahlen zu bewegen.

„Niemanden gegen seinen Willen aus der Szene rausziehen“

Seit 2000 hat die Initiative mehr als 500 Leuten beim Ausstieg aus der rechten Szene geholfen, überwiegend jungen Männern zwischen 22 und 32 Jahren. Die einen waren in Führungspositionen aktiv, die anderen Mitläufer; die einen waren fürs Vordenken zuständig, die anderen fürs Zuschlagen.

Der rechte Terror der NSU“Gemeinsam haben sie, dass sie alle hoch radikalisiert waren“, sagt Fabian Wichmann von Exit, der Hartung von Anfang an beim Ausstieg begleitet hat. „Wir können niemanden gegen seinen Willen aus der Szene rausziehen“, sagt Wichmann. „Es muss immer von den Leuten selbst ausgehen.“

Vergangenheit auf der Haut

Hartung ergriff damals die Initiative, verließ sein Heimatdorf, ging nach Jena und schrieb sich dort an der Uni ein. Seine rechte Vergangenheit ist ihm nicht mehr anzusehen – zumindest nicht auf den ersten Blick. Er kommt alternativ daher: mit Wollmütze, langen Haaren, Kapuzenpulli und roten Turnschuhen. Aber unter den Klamotten sieht es anders aus.

Sein Körper erzählt von früher. Hartung hat noch viele Tätowierungen – rechte Symbole und Parolen. „Ich habe mich damit selbst gebrandmarkt“, sagt er. „Heute bereue ich das unglaublich.“ An den Beinen hat er angefangen, die Zeichen übertätowieren zu lassen: „Inzwischen bin ich so weit, dass ich in kurzen Hosen rumlaufen kann.“ Der Rest soll nach und nach verschwinden.

Drohungen von Ex-Kameraden 

Ein paar Drohungen hat Hartung nach seinem Ausstieg bekommen – per Mail oder SMS. In rechten Internetforen schrieben frühere Kumpanen, er sei „zum Abschuss freigegeben“. Passiert ist nichts. Mit seiner Adresse und Telefonnummer geht er zwar immer noch vorsichtig um. Verstecken will er sich aber nicht. Im Gegenteil.

Die Debatten über V-Leute in der Neonazi-Szene, über ein NPD-Verbot oder die rechtsextreme Terrorzelle NSU verfolgt Hartung heute aus der Ferne. Als das Terrortrio aus Thüringen Ende 2011 aufflog, sei er so ahnungslos gewesen wie die meisten anderen, sagt er. Einige in der Szene hatten über den Widerstand aus dem Untergrund geredet, „aber ich hielt das immer für Maulheldentum“.

Dann kam der 4. November 2011 und die düstere Erkenntnis, dass die Bande jahrelang unerkannt gemordet hatte. „Ich war schockiert, dass es so etwas gibt“, sagt Hartung. Dabei war der Terror, der zehn Menschen das Leben kostete, näher als er wusste.

„Wohlleben war einer von uns“

Mit einem von denen, die heute im NSU-Prozess als Terrorhelfer auf der Anklagebank sitzen, war Hartung früher gut befreundet: mit dem damaligen NPD-Funktionär Ralf Wohlleben. „Er war einer von uns.“ Wohlleben war aber wohl auch einer von den anderen, von denen im Untergrund. Er soll von den verstörenden Verbrechen gewusst haben.

Für Hartung ist all das heute weit weg. „Ich habe inzwischen großen Abstand.“ Die Reue bleibt. „Ich habe ideologische Gewalt ausgeübt. Ich habe einige Leute in die Szene reingezogen. Durch all das habe ich viel Schlechtes in die Gesellschaft gebracht.“

Spielt er nur den Bekehrten?

Vom hetzenden Neonazi zum besonnenen Philosophiestudenten? Manch einer glaubt Hartung die Kehrtwende nicht. Linke Aktivisten werfen ihm vor, er spiele nur den Bekehrten. Bei Diskussionen an der Uni wurde er mehrfach rausgebeten. Auch bei der Studentenvertretung wollten sie ihn nicht haben. „Viele denken: einmal Nazi, immer Nazi“, sagt er. „Aber Menschen können sich ändern.“ (dpa)