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Pranger, Zwangsmarsch – US-Justiz soll „kreativ“ bestrafen

Pranger, Zwangsmarsch – US-Justiz soll „kreativ“ bestrafen

Gericht Gerichtssaal in den USA Foto Imago.jpg
Foto: Archiv/Imago
Gefängnisse in den USA sind notorisch überfüllt. Richter sind daher angehalten, Delinquenten auch „peinliche Strafen“ aufzubrummen. Sie sind kreativ.

Washington. 

Man weiß in Painesville nicht mehr, was Michelle Murray damals eigentlich geritten hat. Aber an die Quittung, die Amtsrichter Michael Cicconetti ihr vor zehn Jahren verpasste, darüber reden sie in der Kleinstadt im Nordosten Ohios heute noch. Die Leiterin des örtlichen Tierheims hatte 35 bei ihr einquartierte Hauskatzen einfach im Wald ausgesetzt. Tierquälerei, auf die normalerweise Gefängnis steht. Cicconetti aber schickte die Missetäterin zur Strafe in den Wald. In eisiger Winternacht sollte sie nachempfinden, „wie es sich anfühlt, wenn man ausgestoßen wird“.

Öffentliche Demütigung von der Richterbank wurde auch Victoria Bascom zuteil. Weil sie einen Taxifahrer um die Zeche geprellt hatte, stellte Amtsrichter Cicconetti sie vor die Wahl: 60 Tage Haft oder 50 Kilometer zu Fuß gehen. Bascom marschierte und brachte Judge Cicconetti dieser Tage wieder in die Schlagzeilen. Für die sorgt der kahlköpfige Jurist regelmäßig mit unkonventionellen Urteilen.

US-Gerichtshof regt Richter zu „fantasievollen“ Strafen an

Aber Cicconetti ist kein Exot. Und seine Richtersprüche sind höchstinstanzlich geschützt. Weil Amerikas Gefängnisse notorisch überfüllt sind und dem Steuerzahler jedes Jahr milliardenschwer auf der Tasche liegen, hat der Oberste Gerichtshof 2004 die Richter landesweit dazu ermutigt, Deliquenten wann immer vertretbar undogmatisch und fantasievoll auf abschreckende Weise zur Rechenschaft zu ziehen. So entstand die mit deutschem Strafrecht kaum vereinbare Disziplin des „creative sentencing“. Einfallsreiches Verurteilen. Und wie einfallsreich…

Im Südstaat Georgia kam ein Junkie um den Knast herum, weil er sich verpflichtete, einen Sarg zu kaufen und in sein Wohnzimmer zu stellen – als ewige Mahnung an die Folgen seiner Drogenabhängigkeit. In Massachusetts musste ein Student, der eine wild ausgeartete Toga-Party organisiert hatte, in eben dieser Toga stundenlang vor dem Polizeihauptquartier ausharren. In Texas hatte ein Vater seinen Sohn gezwungen, in einer Hundehütte zu schlafen. Der Richter brummte ihm 30 Nächte Hundehütte auf. In Hoboken, New Jersey, wurden Geschäftsleute, die nach abendlicher Sause in betrunkenem Zustand öffentlich auf die Straße pinkelten, vom Richter dazu verurteilt, das betroffene Areal mit der Zahnbürste zu säubern. In San Francisco musste eine Diebin mit einem Schild vor dem Postamt stehen. Darauf in großen Buchstaben zu lesen: „Ich habe Post gestohlen. Das ist meine Strafe.“

„Shame sanctions“ – peinliche Strafen sollen auf Straftäter einwirken

Gleiches mit Gleichem zu vergelten, einen Übeltäter vorübergehend zu stigmatisieren und zur Schau zu stellen, diese Logik wurzelt nicht nur tief im amerikanischen Rechtsverständnis, wo sich Schuld und Unschuld an einem über Jahrhunderte gewachsenen Gerechtigkeitsempfinden orientieren. Es folgt auch der Erkenntnis, dass zuletzt immer drakonischer ausgefallene Gefängnisstrafen selbst bei geringfügigen Vergehen der Allgemeinheit nicht mehr zu vermitteln sind. „Shame sanctions“, peinliche Strafen, gelten darum auf der Ebene der Amtsgerichte als probate Alternative. Zum einen würden so „die verletzten Rechtsgrundsätze verteidigt“, sagte einmal Joe Brown, zum anderen „hält die Macht der Scham potenzielle Nachahmer ab“. Der Richter aus Memphis machte schon vor langer Zeit Furore, als er Raubopfern gestattete, sich aus Revanche in den Häusern der Diebe zu bedienen. Brown bekam später sogar eine eigene Fernsehshow.

Weil die amerikanische Verfassung ausdrücklich „grausame und ungewöhnliche Strafen“ verbietet, wandeln die kreativen Richter bei ihrer Methode, die den puritanischen Geist der Beschämung und des Prangers atmet, manchmal auf dünnem Eis. Richter Cicconetti bekam die Kritik zu spüren, als er vor Jahren Jim Santoro und Judith Reichel verurteilte. Das junge Paar hatte sich in der Nähe von Cleveland an einem Ausflugs-See hemmungslosem Freiluft-Sex hingegeben. Was Familien mit neugierig fragenden Kindern den Tag vergällte. Strafe: Das Paar musste sich in Zeitungsanzeigen der örtlichen Blätter für sein „unzüchtiges Verhalten entschuldigen“. Cicconnetti fand das gerecht und wirkungsvoll. Seine Richtschnur: „Keine Strafe zu verhängen, die ich nicht selber verbüßen würde.“