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Hartz-IV-Empfänger sollen zum Sparen Leitungswasser trinken

Hartz-IV-Empfänger sollen zum Sparen Leitungswasser trinken

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Foto: dpa
Wenig Fleisch essen, Leitungswasser trinken und ihre alten Möbel verkaufen: Eine Broschüre des Jobcenters Pinneberg mit „Tipps“ für Hartz-IV-Empfänger sorgt für Empörung. Der Vize-Chef der Bundesagentur lobt den Ratgeber, ein Sozialverbandschef sieht das anders und übt drastische Kritik.

Essen. 

Hartz-IV-Empfänger sollen Leitungswasser trinken, ihre alten Möbel im Internet verkaufen und weniger Fleisch essen. Das empfiehlt das Jobcenter Pinneberg, nördwestlich von Hamburg gelegen, in ihrem neuen „Arbeitslosengeld-II-Ratgeber“.

Der Vizechef der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, hat die Broschüre mit den Spartricks nun gelobt. „Jobcenter Pinneberg hat einen tollen ALG2 Ratgeber herausgegeben“, schreibt er beim Kurznachrichtendienst Twitter. Und erntet dafür heftige Kritik.

„Ich habe den Verdacht, er hat in die Broschüre gar nicht reingeschaut“, sagt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Schließlich sei Alt ja ein vernünftiger Mensch. Den Ratgeber hingegen nennt Schneider eine „Katastrophe“. „Der sollte eingestampft werden.“

Broschüre vom Jobcenter Pinneberg erklärt, wie Familie Hartz IV beantragt

In der kostenlosen Broschüre wird anhand von Comic-Bildern beschrieben, wie „Familie Fischer“ erstmals Hartz IV beantragen muss. Es wird in einfacher Sprache erklärt, was Antragsteller tun müssen, um möglichst schnell Geld zu erhalten, und wie viel Geld ihnen zusteht. So weit, so gut.

Jedoch kommen auch folgende Szenen in dem Buch vor: Die Eltern sitzen mit ihren zwei Kindern am Tisch und überlegen, wie sie Geld sparen können. Der Beschluss: Sie wollen eine Woche kein Fleisch essen. Die Tochter des Hauses freut sich: „Ich will sowieso Vegetarier werden!“

In einer anderen Szene wird beschrieben, wie die Familie zwei Möbelstücke, die seit elf Jahren auf dem Dachboden verstaubten, über das Internet verkauft – und dafür mehr als 350 Euro bekommt. Geld, das sie behalten dürfen, wie erklärt wird.

Es werden Erinnerungen wach an die Spartipps von Thilo Sarrazin. Der damalige Berliner Finanzsenator gab im Jahr 2008 Tipps, wie sich Hartz-IV-Empfänger für weniger als vier Euro pro Tag ernähren könnten. Außerdem kritisierte Sarrazin den Umgang vieler Arbeitslosengeld-II-Empfänger mit Energie. Sie hätten es gerne warm. Sein Ratschlag an alle, die Kosten sparen wollen: bei 16 Grad Raumtemperatur leben und einen dicken Pullover tragen.

Hartz-IV-Empfänger sollen zum Sparen Steine in den WC-Spülkasten legen

Die Broschüre des Jobcenters Pinneberg hat da noch andere Vorschläge. In einer beschriebenen Szene rät eine Freundin beim Einkauf mit der Mutter, dass sie doch auch Leitungswasser trinken könnten, anstatt Getränke zu kaufen. Schließlich sei die Qualität oft besser als bei Mineralwasser. Zu dem Einwand, dass Leitungswasser nicht so gut schmecke, hat sie eine klare Meinung: „Vielleicht müsst ihr euch nur daran gewöhnen.“ Wasser könne zudem gespart werden, indem man Steine in den WC-Spülkasten legt.

Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ist erschüttert von solchen Vorschlägen. Die Tipps seien mit Sicherheit gut gemeint, „aber die Umsetzung ist katastrophal“, sagt Schneider. Die gesamte Inszenierung als Comic habe mit der Lebenssituation und der Not wirklicher Hartz-IV-Familien nichts zu tun. „Das ist eine Frechheit, da werden sie veralbert.“

Die Familie in der Broschüre nutze die Arbeitslosigkeit als Chance, ihren Dachboden zu entrümpeln, die Tochter wollte sowieso Vegetarierin werden und freut sich, wenn es kein Fleisch mehr gibt. „Das ist an den Haaren herbeigezogen. Das ist wirklich schon zynisch und hat mir die Schuhe ausgezogen“, regt sich Schneider auf.

Broschüre ist Diskriminierung von ALG-II-Empfängern

Die Wirklichkeit werde völlig missachtet, sagt auch Martin Debener, Fachreferent Armut und Grundsicherung beim Paritätischen Wohlfahrtsverband NRW. Viele Menschen, die Anrecht auf Unterstützung und Hilfe hätten, würden diese gar nicht in Anspruch nehmen – weil ihnen in Jobcentern ablehnend entgegengetreten werde. „So eine Broschüre ist ein Verhöhnen der Hilfeempfänger und der Schwierigkeiten, die sie haben“, so Debener.

Niemand habe das Recht, Hartz-IV-Empfängern vorzuschreiben, wie sie leben und was sie essen und trinken sollen, sagt AWO-Vorstandsmitglied Brigitte Döcker: „Selbst wenn diese Vorschläge gut gemeint sind, stellen sie eine Diskriminierung der Betroffenen dar.“

Die Bundesagentur steht weiter hinter der lobenden Kommentierung ihres Vizechefs: „Herr Alt ist Vorstand der Bundesagentur für Arbeit und wenn er sich zu der Broschüre äußert, dann ist das die Meinung der Bundesagentur“, sagte eine BA-Sprecherin auf Nachfrage.