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Dschihadismus – „jede Familie in Deutschland ist potenziell gefährdet“

Dschihadismus – „jede Familie in Deutschland ist potenziell gefährdet“

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Foto: picture alliance / dpa
Was kann, was muss in den muslimischen Gemeinden gegen Extremismus unternommen werden? Auf einem Workshop im Essener NRZ-Pressehaus tauschten sich Muslime darüber aus – und forderten mehr Diskussion und Selbstreflexion in ihren Gemeinden.

Essen. 

Bundesweit gibt es etwa 1000 militante Salafisten, von denen die Sicherheitsbehörden etwa 230 als Gefährder einstufen. Diese kleine Minderheit unter den vier Millionen Muslimen in Deutschland prägt – zusammen mit den Berichten über die Gräueltaten muslimischer Extremisten weltweit – hierzulande den öffentlichen Diskurs über den Islam. Mit der Zahl der Extremisten wächst auch das Misstrauen, immer mehr nicht-muslimische Deutsche nehmen den Islam und eben nicht nur den (politischen) Islamismus als Bedrohung wahr. In den muslimischen Gemeinden nimmt die Unsicherheit zu. Gleichzeitig aber gibt es immer mehr Muslime wie Abbas Nadjem, die eine offene Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Radikalisierung einfordern: „Die Diskussion über den Extremismus muss in den Gemeinden geführt werden“, sagt der 23-Jährige, der in der Mawkeb-Abess-Al-Shakeri-Moschee in Köln-Niehl unterrichtet.

Ein Anfang dazu ist jetzt im Essener NRZ-Pressehaus gemacht worden. Dort diskutierten Vertreter von muslimischen Gemeinden mit Experten darüber, wie das Abgleiten junger Muslime in den Extremismus verhindert werden kann. Abbas Nadjem, der junge Muslim aus Köln, moderierte die Veranstaltung. Eingeladen hatten die Betreiber der Facebook-Seite „News zur muslimischen Welt“, die Aufklärung und Präventionsarbeit im Netz betreiben.

Mit dabei: Saloua Mohammed, eine Streetworkerin aus Bonn, die dort mit arabischsprechenden Familien arbeitet und immer wieder mit Beispielen von Jugendlichen konfrontiert wird, die sich radikalisieren. Jugendliche, die, wie Mohammed beobachtet hat, häufig in einer „Spirale des Versagens“ feststecken, und erst in extremistischen Kreisen Wertschätzung erfahren; die aber auch durch Abgrenzung und Radikalisierung auf die aktuellen antiislamischen Bewegungen in Deutschland reagieren – nach dem Motto: „Jetzt erst recht.“

„Wir müssen den Verführern die Deutungshoheit nehmen“

Um Ausgrenzungserfahrungen schon in der Schule zu verhindern, seien interkulturelle Trainings für Lehrer nötig, forderte Mohammed. Genauso müsse „aber auch Selbstreflexion und Selbstkritik in den muslimischen Gemeinden“ stattfinden, etwa über die Frage, warum es immer wieder Streit über das Thema gebe, wer den wirklich rechten Glauben habe. „Wir müssen Verführern wie Pierre Vogel (der führende Kopf der deutschen Salafismus-Szene, die Red.) die Deutungshoheit wegnehmen“, so Mohammed.

Besonders attraktiv ist der militante Salafismus mit seinem simplen Schwarz-Weiß-Denken für Jugendliche, weil er wie keine andere der zahlreichen Ausprägungen des Islam „gemeinschafts- und identitätsstiftend“ sei, erläuterte Claudia Dantschke. Sie gilt als eine der wichtigsten deutschen Salafismus-Expertinnen, und warnte in Essen: „Es gibt in Deutschland keine Familie, die nicht potenziell gefährdet ist, dass ihr Sohn oder ihre Tochter in die dschihadistische Szene abgleitet.“ Nahezu alle Jugendlichen, die sich derart radikalisierten, hätten es „nie gelernt, sich mit Religion auseinanderzusetzen“ — das theologische Fundament der Radikalen sei entsprechend einfach konstruiert.

„Der Salafismus ist eine schlimme Ideologie, die zum Hass verführt“

Imam Abu Adam Hesham Shashaa nimmt die religiösen Begründungen für den Extremismus regelmäßig auseinander. Er ist so etwas wie ein Klischee auf zwei Beinen. 20 Kinder, vier voll verschleierte Frauen, langer Bart, Gebetsflecken auf der Stirn, wallendes Gewand und Kopftuch. Ein konservativer Prediger, einer der auf den ersten Blick alle Vorurteile jener Menschen bestätigt, die den islamfeindlichen Demonstrationen dieser Tage etwas abgewinnen können.

Imam Abu Adam ist aber auch, und da geraten eindimensionale Weltbilder ins Wanken, für die salafistische und dschihadistische Szene in Deutschland und darüber hinaus ein Feindbild. Weil er zwar konservativ ist, aber mit Verve gegen Extremismus anpredigt und den interreligiösen Dialog pflegt. „Der Salafismus ist eine schlimme Ideologie, die den Menschen zum Hass gegen die Menschheit verführt“, betonte er in Essen. Er forderte vor allem eine bessere Ausbildung von Imamen in Deutschland. „Es ist eine Katastrophe, dass es möglich ist, dass in Deutschland völlig unwissende und radikale Imame predigen können.“ Und: „Wir müssen es machen wie die Salafisten – wir müssen die Jugendlichen dort erreichen, wo sie sind und ihnen Aufmerksamkeit schenken.“