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Zurück ins Leben – zehn Jahre nach dem Unglück von Eschede

Zurück ins Leben – zehn Jahre nach dem Unglück von Eschede

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Foto: WAZ FotoPool

Enschede. 

Vom Spielplatz weht Kinderlachen herüber. Sonst ist es ruhig im Park des Enscheder Stadtteils Reembook, wo 23 Namen auf einen Gedenkstein eingemeißelt sind. Gras wächst über dicke Betonplatten, die mal zum Bunker der Feuerwerksfabrik führten, die hier vor zehn Jahren explodierte und einen ganzen Stadtteil ausradierte.

Warm ist es an diesem 13. Mai 2000. Kein Wölkchen trübt den strahlend blauen Himmel. Auch in Reembook stellen sie die Gartenmöbel nach draußen und laden Freunde zum Grillen ein. „Ein herrlicher Tag”, sagt Danny De Vries. Der niederländische TV-Journalist ist damals zufällig für ein paar Interviews in der Nähe unterwegs, als ihn Freunde anrufen. „In Reembook brennt eine Feuerwerksfabrik. Ist das nichts für dich?”

23 Menschen sterben

De Vries fährt hin. Sirenen heulen, Blaulichter zucken in der hellen Sonne. Doch die Feuerwehr winkt ab: „Routineeinsatz.” Deshalb gibt es auch keine Absperrungen, keine Warnungen. Und deshalb bleiben die Menschen auch auf der Straße stehen, als die die ersten kleineren Feuerwerkskörper explodieren. Auch De Vries filmt unbehelligt. „Niemand hat mich weggeschickt.”

Er filmt immer noch, als das Inferno losbricht. Filmt die aufsteigenden Raketen und die schwarze Rauchsäule, die immer größer wird. Stärker und stärker werden die Explosionen, bis mit einem Schlag rund 100 Tonnen Sprengstoff in die Luft gehen. De Vries wird mehrere Meter durch die Luft gewirbelt, bleibt aber unverletzt. Die letzten Bilder seiner Kamera gehen um die Welt.

Das Ende von Reembook

Im wenige Kilometer entfernten Ahaus sitzt Günter Setzpfand an diesem Nachmittag in seinem Garten. Er hört den Knall. Und er ist bei der Feuerwehr. Deshalb ist er nicht überrascht, als kurz darauf das Telefon klingelt. Die Kameraden aus den Niederlanden brauchen Hilfe. Setzpfand ist Einsatzleiter. 15 Minuten später sind die Deutschen da. „Wo sollen wir löschen”, fragen sie. „Egal”, antwortet ein holländischer Kollege. „Es brennt überall.”

Blutende Menschen schreien um Hilfe. Wo bisher Häuser standen, liegen nur noch dicke Steinhaufen, aus glänzenden Autos sind glühende Stahlgerippe geworden. „Diese Anblicke gönne ich keinem”, sagt Setzpfand. Als der Abend anbricht, sind 23 Menschen tot, rund 1000 verletzt und über 2000 ohne Bleibe. Es ist das Ende von Reembook.

Architekt als Bau- und Heilmeister

Aber es ist auch sein Anfang. Nur zwei Wochen nach dem Inferno gründen die Betroffenen einen Verein. Sie wollen das Viertel wieder aufbauen. Nach ihren Vorstellungen. Vor allem aber ohne die Leute in der Stadtverwaltung, die die Katastrophe nach Ansicht vieler Enscheder erst möglich machten. Weil sie viel schlampten, wenig kontrollierten und eine Feuerwerksfabrik mitten in einem Wohnviertel duldeten. „Es ging auch um Gefühle”, erinnert sich der Vereinsvorsitzende Albert Vasse.

Ein Projektbüro wird eröffnet, externe Berater kommen hinzu. Der bekannte Architekt Pi de Bruijn wird in die Projektleitung gewählt. „Nicht nur als Baumeister, auch als Heilmeister”, sagt Vasse. Unter seiner Leitung können die Anwohner ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Auf Informationsabenden basteln sie mit Legosteinen und Ton, was ihnen vorschwebt.

Rund neben eckig

Vieles davon ist verwirklicht worden und hat das neue Reembook zu einem Wohnviertel gemacht, das es so wohl kein zweites Mal auf der Welt gibt. 600 Millionen Euro sind in den Wiederaufbau geflossen. Das ehemalige Fabrikgelände ist zum Park geworden. Entlang vieler Straßen gleicht kein Haus dem anderen. Weil jede Farbe, jede Form erlaubt war. Grün steht neben rot, rund neben eckig, klein neben groß, Holz neben Beton, 1920er Jahre neben Science-Fiction. „Wir durften viele Baunormen ignorieren”, bestätigt Vasse. Architekturpreise hat das dem Projekt gebracht und jährlich mehr als 200 geführte Besuchergruppen aus aller Welt.

Auch viele Bewohner sind zurückgekommen. Ihre Wunden sind verheilt, aber die Narben brechen immer wieder auf. „Bei vielen liegt die Erinnerung dicht unter der Oberfläche”, weiß Vasse. Auch bei Danny De Vries. Er leidet nicht, aber er hat auch nichts vergessen. „Seit dem 13. Mai 2000”, sagt er, ist jeder neue Tag ein Geschenk für mich.”