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„Vom Leben null Ahnung“ – 17-Jährige twittert Schulfrust

„Keine Ahnung von Steuer, aber in vier Sprachen analysieren“

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Foto: Thinkstock/Twitter (Montage: Funke Digital)
Bereitet das Bildungssystem junge Menschen auf das Leben vor? Nein, meint Schülerin Naina und postete das bei Twitter. Dafür erntete sie Zuspruch.

Essen. 

Mit ihrer Kritik am deutschen Schulsystem hat eine 17-jährige Schülerin aus Köln offenbar einen Nerv getroffen. „Ich bin fast 18 und habe keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann eine Gedichtanalyse schreiben. In vier Sprachen“, twitterte Naina am Samstag. Mittlerweile wurde ihr Tweet über 11.000 mal geteilt.

Zahlreiche Kommentatoren stimmen stimmen der 17-Jährigen zu. „Mich ärgert das auch maßlos“, schreibt etwa Michael Büker. Und Cornelia Travnicek spottet: „So findest du die richtigen Gedichte, die deine Verwirrung angesichts Steuern, Miete und Versicherungen ausdrücken.“

„Keine Ahnung von Wohnungssuche“

„Ich habe den Tweet am Samstagabend wie jeden anderen gepostet. Und als ich Sonntag aufgewacht bin und aufs Handy geguckt habe, dachte ich: Wow, was ist passiert, was hast du getan“, sagte sie dem Kölner „Express“. Die Schülerin geht demnach in die zwölfte Klasse eines Kölner Gymnasiums und macht in diesem Jahr Abitur.

Doch als sie sich mit ihrer Zukunft nach dem Abitur beschäftigte, sei ihr aufgefallen, dass sie „keine Ahnung von Wohnungssuche“ habe und nicht wisse, „was ich für Versicherungen brauche, wie das mit Krankenkasse oder Kindergeld läuft.“ Auf diese Dinge habe die Schule sie nicht vorbereitet. „Ich habe gute Noten, aber vom Leben null Ahnung“, sagte Naina der Bild-Zeitung.

Philologen-Verband teilt Kritik nicht

„Wir nehmen das sehr ernst, wenn die Schülerin sagt, sie lernt etwas, aber es fehle ihr noch etwas“, heißt es in einer Stellungnahme des NRW-Schulministeriums. „Die Debatte trifft uns nicht unvorbereitet, denn wir stärken die Verbraucherkompetenzen, das kommt den Alltagskompetenzen der Schülerinnen und Schüler zugute.“ Gleichzeitig stellt das Ministerium aber auch klar: „Schule kann nicht immer alles alleine lösen, es sind natürlich auch die Eltern gefragt.“

„Es kann nicht die Aufgabe von Schule sein, junge Menschen auf jeden Aspekt des Alltags vorzubereiten“, glaubt auch Peter Silbernagel vom Philologen-Verband NRW. Viel wichtiger sei, dass Schüler lernen, „wie sie mit neuen Herausforderungen umgehen können.“ Außerdem solle Schule die Möglichkeit nutzen, bei jungen Menschen Neugier auf Dinge wie Literatur oder Musik zu wecken.

Nainas Schulleiterin meldet sich zu Wort

Unterstützung bekommt Naina hingegen von der LandesschülerInnenvertretung (LSV) NRW. „Die Kritik geht eine Richtung, für die auch die LSV steht“, sagt LSV-Vorstandsmitglied Lisa Kurapkat. Die 18-Jährige Bielefelderin macht im kommenden Jahr selbst Abitur und kennt Nainas Probleme: „Der Unterricht ist leider oft sehr alltagsfern. Auch wir würden uns Themen wie Steuerlehre im Unterricht wünschen. So etwas könnte vielleicht im Politikunterricht angesprochen werden.“

Mittlerweile hat sich auch Monika Burbaum, Direktorin der Erzbischöflichen Ursulinenschule in Köln zum Tweet ihrer Schülerin geäußert: „Wenn wir als Schule junge Menschen dazu befähigen, dass sie eine solch wichtige Diskussion entfachen, haben wir zentrale Erziehungsziele erreicht.“

Auch das Elternhaus hat Aufgaben

„Unsere Schülerinnen sind selbstbewusst, denken über sich und ihre Fähigkeiten nach und vertreten eigenständige Positionen“, lobte sie Nainas Engagement. Die Kritik am Lehrplan teilt sie jedoch nicht.

Die Schule müsse lehren, wie man das Leben meistert und sich die Informationen besorgt, die man benötigt, glaubt Burbaum. Dabei baue man auf die Zusammenarbeit mit dem Elternhaus. „Dort muss wesentlich vermittelt werden, was junge Menschen für ihre Alltagsbewältigung brauchen.“

Tweet löst Bildungsdebatte im Internet aus 

Auch bei Twitter diskutieren zahlreiche Nutzer über Nainas Tweet. Neben vielen positiven Kommentaren hat die Schülerin aber auch zahlreiche Kritiker. „Schule soll Allgemeinbildung vermitteln. Dass Kinder auf eigenen Beinen stehen, ist Aufgabe der Eltern. Der Tweet von Naina ist nur Polemik“, glaubt Konrad Schäfer. Und ein anderer Twitterer meint: „Frag einfach mal deine Eltern, die sind für Dich verantwortlich, nicht die Schule.“

Viele Menschen stimmen der Schülerin aber zu „Leider hat Naina recht. Und bei G8 werden Schüler ohne jede Orientierung aus der Schule entlassen. Vorbereitung auf Arbeit…“, twittert Karsten Schröder. Und Marcus Härtel schreibt: „Mit deinem Tweet triffst du voll ins Schwarze. Ich mache selber Fachabi und wir lernen auch alles was man später nie braucht.“ Auch zahlreiche Medien haben sich mittlerweile zur Debatte geäußert.

Debatte um Selbstständigkeit

„Wirtschafts- und Finanzthemen spielen in der Schule eine viel zu geringe Rolle“, glaubt Alexander Armbruster von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er fordert mehr Finanzwissen in der Schule. Andere Unterrichtsinhalte könnten dafür gestrichen werden: „Müssen sich Schüler zum Beispiel in der Götterwelt der Antike auskennen? Müssen sie wissen, dass Helium ein Edelgas ist? Müssen sie unbedingt Bilder im impressionistischen Stil selber malen können? Nein, sicher nicht.“

Ganz anders sieht das Susanne Baller vom Stern. Sie fordert mehr Selbstständigkeit von jungen Menschen: „Mit fast 18 musst du dich leider langsam von der Idee verabschieden, dass immer irgendjemand anders für das zuständig ist, was dich interessiert. Aber das ist gar nicht so schlimm, erwachsen werden macht dich nämlich auch unabhängiger.“ Letztlich macht sie der Schülerin aber Mut: „Du wirst die Probleme lösen, wenn welche auftauchen.“