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Fünf Jahre nach Winnenden – wie Überlebende mit dem Trauma umgehen

Fünf Jahre nach Winnenden – das Trauma der Überlebenden

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Der Amoklauf von Winnenden. Am 11 März 2009 geschah an der Albertville-Realschule in Winnenden in Baden Württemberg eines der schrecklichsten Verbrechen an einer Schule in Deutschland. Auch fünf Jahre nach der Bluttat sind die Erinnerungen noch wach. Di Foto: Ralf Rottmann / WAZ FotoPool
Selina Dogan und Carolin Schneider überlebten vor fünf Jahren den Amoklauf von Winnenden. Am 11. März 2009 tötete der damals 17-jährige Tim Kretschmer 15 Menschen. Zufälle waren es, die an jenem Morgen über Leben und Tod entschieden. Bis heute fragt sich Selina: „Warum habe gerade ich überlebt?“ Über zwei, die ins Leben zurückfanden.

Winnenden. 

Seinen Namen bringt sie bis heute nicht über die Lippen. Und wann immer sie sich in einem geschlossenen Raum aufhält, bleibt Selina Dogan fixiert auf die Tür, lauscht sie nebenbei nach Schritten, die sich nähern könnten. Fünf Jahre sind vergangen seit jenem 11. März 2009, als der Winnender Tim Kretschmer in seiner früheren Schule Amok lief und 15 Menschen tötete. In der 9c treffen seine Kugeln Jana, Chantal und Kristina. Selina, damals 14, überlebt. Ihrer Freundin zuliebe hatte sie sich ausnahmsweise nach vorne gesetzt – weit weg von der Tür.

„Sie wollte aufpassen und nicht quatschen wie sonst. Dieser Idee habe ich mein Leben zu verdanken!“, sagt die heute 19-Jährige. Zufälle waren es, die an jenem Morgen über Leben und Tod entschieden. Es ist 9.33 Uhr, als der 17-jährige Tim Kretschmer im dritten Stock die Tür des ersten Klassenraums aufdrückt und schießt. Selina hört das Knallen, denkt noch, dass wohl jemand eine aufgeblasene Brottüte zerschlagen hat. „Ich drehte mich um und sah ihn. Ich wusste sofort, das ist kein Spaß“, erinnert sie sich. Selina lässt sich zu Boden fallen, zieht reaktionsschnell ihre Freundin vom Stuhl.

Danach beginnen unendlich lange Minuten der Angst. Die Schüler robben sich zur Tafel, verbarrikadieren sich mit Stühlen und Bänken. Marie-Luise Braun, die Deutschlehrerin, spurtet mutig zur Tür, verschließt sie im letzten Moment. Denn er, Tim Kretschmer, kehrt zurück, schießt weiter durch die geschlossene Tür. Ein Streifschuss erwischt die Lehrerin. Für Jana, Chantal und Kristina gibt es da längst keine Hilfe mehr.

Es war kein leichter Weg

Selina versucht verzweifelt per Handy ihre Mutter zu erreichen. Doch immer wenn sie eine Verbindung hat, fallen weitere Schüsse und sie legt erschrocken wieder auf. „Ich hatte keine Angst um mich, sondern um meine Mutter und meine Schwester, die in der Schule nebenan war. Dass er dort weitermachen könnte… dass meine Mutter in Sorge zur Schule fahren könnte“, sagt sie.

Zwanzig Minuten dauert der tödliche Wahnsinn; Selina kommt es wie Jahre vor. Als Polizisten sie aus ihrem Klassenraum befreien, liegen im Flur zwei weitere Tote, bedeckt von Tüchern.

Selina schwäbelt ganz wunderbar. Das tiefschwarze Haar, der dunkle Teint jedoch lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie ein Migranten-Kind ist. Der Vater Türke, die Mutter Mazedonierin. Ein Großvater arbeitete bei Daimler. Winnenden, das ist ihre Heimat, hier will sie nicht fort. Trotz allem, was geschehen ist. Zwei Jahre lang besprach sie alles mit einer Psychologin. Es war kein leichter Weg. Vom Tag des Amoklaufes, von der Nacht darauf, in der sie ins Bett der Mutter flüchtete, bis hin zu der 19-Jährigen, die so reif und so positiv in die Zukunft blickt.

Eine Zeitung erklärte sie für tot

Eine Boulevard-Zeitung brachte Selinas Foto am Tag danach. Sie sei eine der Toten. Man hatte sie verwechselt. Und so fielen ihr auf dem Weg zum Trauer-Gottesdienst Menschen glücklich um den Hals, weil sie doch noch lebte. Und als sie sich nach Wochen erstmals wieder in eine Schule traut, hocken sie und ihre Mitschüler im Stuhlkreis. Bis zu jenem Moment, in dem eine Schulsekretärin anklopft. „Wir haben uns alle sofort auf den Boden geworfen“, sagt Selina.

„Warum habe gerade ich überlebt?“, das fragt sich Selina, die inzwischen im Rathaus von Winnenden eine Ausbildung zur Verwaltungs-Fachwirtin macht. Das fragt sich auch Carolin Schneider, das Mädchen aus der 10d, aus dem Raum 301. Ein Zufall, der auch sie überleben ließ. Carolin hatte mit ihrer besten Freundin Steffi an diesem Tag den Platz gewechselt. Mit Steffi, mit der sie später „in Löffelchen-Stellung“ am Boden lag. Steffi, deren weiße Bluse plötzlich voller Blut war. Der sie noch zu trinken geben wollte, aus ihrer Sigg-Flasche. Die doch schon tot war.

Gedanken über den Täter

Über die Feuerleiter rettet sich Carolin, rettet sich die Klasse aus dem dritten Stock. Sechs von ihnen haben nicht überlebt.

„Ich will nicht, dass das alles vergessen wird“, sagt Carolin Schneider. Sie hat mit anderen ein Buch geschrieben über den Amoklauf, engagiert sich im Aktionsbündnis Winnenden für ein Verbot großkalibriger Schusswaffen. Und bis heute trifft sie sich alle zwei Wochen mit der Mutter ihrer Freundin Steffi. Sie telefonieren, simsen, halten den Kontakt. Für Carolin ist diese wie eine Freundin, aber sie weiß auch: „Sie sieht in mir Steffi!“.

Carolin und Selina, zwei junge Frauen, die den Amoklauf überlebten, die sich Gedanken über den Täter machen. Selina sagt: „Man wird nicht von heute auf morgen zum Amokläufer. Irgendetwas hat ihn dazu gemacht.“ Carolin kannte Tim Kretschmer sogar flüchtig aus dem Sportunterricht. „Hallo“, „tschüss“, mehr war da nicht. „An dem Morgen soll es zwischen ihm und seiner Mutter kein Gespräch gegeben haben. Da muss doch was schief gelaufen sein!“, erklärt Carolin. Ohne ein Wort, ohne eine Umarmung aus dem Haus zu gehen, das wäre für sie beide undenkbar. Nach allem, was geschehen ist.