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Das Bruttoinlandsprodukt – und was es über Wohlstand aussagt

Das Bruttoinlandsprodukt – und was es über Wohlstand aussagt

In der Krise hoffen die Europäer auf Wachstum als Heilmittel. Damit meinen sie einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts. Doch wer das „BIP“ misst, misst nicht automatisch den Wohlstand eines Staats.

Brüssel. 

Wenn Autobauer mehr Fahrzeuge herstellen und Molkereien mehr Käse, steigt unsere Wirtschaftskraft. Die Wirtschaft wächst nach gängigem Verständnis aber auch, wenn ein Unternehmen gegen Bezahlung einen verschmutzten Fluss reinigt oder andere Umweltschäden repariert. Daher regt sich Kritik an der Art und Weise, wie die Wirtschaftskraft eines Landes ermittelt wird. Die derzeit wichtigste Messlatte für die Wirtschaftskraft ist das „Bruttoinlandsprodukt“, abgekürzt „BIP“. Als das Maß aller Dinge gilt es aber nicht mehr. Das gibt selbst Europas oberster „Herr des BIP“ zu.

„Die Messung des Bruttoinlandsprodukts darf nicht verwechselt werden mit der Messung des Wohlstands“, sagt der Chef des EU-Statistikamts Eurostat, Walter Radermacher. Er muss es wissen. Der gebürtige Aachener beschäftigt sich seit etwa 25 Jahren auf diversen Posten mit der Berechnung der Wirtschaftskraft.

Radermacher nennt das BIP die „Buchhaltung eines Staates für eine Periode“: „Die Statistiker ermitteln, wie viel hergestellt wurde, wie oft eine Ware den Besitzer wechselte und wie viele Waren und Dienstleistungen verkauft wurden.“ Wozu das gut ist, erklärt Professor Roland Döhrn vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung. „Die Staatsfinanzen hängen davon ab, wie sich das BIP entwickelt“, sagt der Chef der Abteilung „Wachstum und Konjunktur“. „Denn nur auf Leistungen, die bezahlt werden, kann man Steuern erheben.“ Je weniger Bürger und Unternehmen erwirtschaften, desto weniger Steuern zahlen sie. Und desto weniger Leistungen kann ein Staat Bürgern bieten – zum Beispiel im Gesundheits- oder Schulwesen und im Straßenbau.

Das BIP bildet nur die Marktsituation ab 

Für die Staatsfinanzen ist das BIP also eine wichtige Größe. Doch die Statistiker ermitteln mit dem Bruttoinlandsprodukt nur das, was auf dem Markt läuft. Mehr nicht. „Es gibt soziale Leistungen, die die Gesellschaft erbringt, aber die nicht bezahlt werden“, sagt Eurostat-Chef Radermacher. Diese Leistungen seien trotzdem wichtig für das Wohlbefinden von Menschen. In die BIP-Berechnung fließt zum Beispiel nicht ein, wenn eine Mutter oder ein Vater eine berufliche Auszeit nimmt, um ein Kind aufzuziehen. Geht das Kind auf eine Ballettschule, fließt das jedoch sehr wohl ins BIP ein: Für diese Leistung bezahlen die Eltern Geld.

Ähnlich ist es mit der Pflege älterer Menschen. Versorgen Familienmitglieder Opa und Oma zu Hause unentgeltlich, steigert das die Wirtschaftsleistung nicht. Beauftragt die Familie einen Pflegedienst, erhöht sie das BIP. Andere Entwicklungen schmälern das Wohlbefinden von Menschen, das BIP jedoch nicht. Die Umweltverschmutzung zum Beispiel: Ist eine Fläche verseucht oder ein Fluss schmutzig, kann das die Wirtschaftskraft eines Staats sogar steigern – wenn jemand die bezahlte Dienstleistung des Saubermachens erbringt. Solche Dinge dringen immer mehr ins Bewusstsein der Experten, seit in den 1950ern internationale Standards für das BIP entwickelt wurden. „Seit den 60er und 70er Jahren bemühten sich Wissenschaftler, zusätzlich soziale Indikatoren zu betrachten“, sagt EU-Chefstatistiker Radermacher. „In den 80ern kam das Thema Nachhaltigkeit und Umweltschutz hinzu.“

Gegenwärtig wird weltweit diskutiert, neben dem BIP Kriterien für Umwelt und Wohlstand stärker zu beachten. Dazu gehören die Teilhabe am Arbeitsmarkt, die Gesundheitsversorgung, Schule, Ausbildung oder die Ausgestaltung der Sozialsysteme. Dafür interessieren sich nicht nur Wissenschaftler. 2008 rief Frankreichs damaliger Präsident Nicolas Sarkozy renommierte Wirtschaftswissenschaftler wie Joseph Stiglitz. Sie sollten die Grenzen des BIP als Signal für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ermitteln.

„Club of Rome“ fordert nachhaltiges Wirtschaften 

Im Deutschen Bundestag beschäftigt sich die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ mit ähnlichen Themen. Sie lotet unter anderem Wege zu nachhaltigem Wachstum aus. Auf EU-Ebene ist das Thema ebenfalls präsent. 2011 einigten sich das EU-Parlament und die Staaten auf „umweltökonomische Gesamtrechnungen“. Die sollen Europas BIP ergänzen. Bis der Fokus nicht mehr nur auf dem Bruttoinlandsprodukt liegt, dürfte einige Zeit vergehen. „Der ökologische Fußabdruck unserer Industriegesellschaft wird noch zu wenig beachtet“, sagt der EU-Abgeordnete Jo Leinen (SPD). Er hat am EU-Gesetzestext zur umweltökonomischen Gesamtrechnung mitgewirkt. „Wir brauchen nicht nur eine Wirtschaftsbilanz, sondern auch eine Öko-Bilanz.“ Das BIP allein könne den gesellschaftlichen Fortschritt nicht abbilden.

Ähnlich sieht das der „Club of Rome“. Das Experten-Netzwerk wurde mit seinem Bericht „Grenzen des Wachstums“ vor vierzig Jahren weltbekannt. Auch heute fordert der Club of Rome nachhaltiges Wirtschaften. „Wachstum wird vielfach immer noch als Selbstzweck angesehen und unkritisch mit Fortschritt und Lebensqualität identifiziert“, erklärte er jüngst. „Der damit faktisch verbundene Umwelt- und Ressourcen-Verbrauch wird ausgeblendet.“ Der Club of Rome will ein „neuartiges Wachstum 2.0“. Zukunftsbranchen seien das Gesundheits- und Bildungswesen, aber auch der Umweltschutz, Erneuerbare Energien und Wasseraufbereitung. Zudem ließe sich im Verkehrsbereich einiges machen – weg von Benzinautos hin zu „klimaschonenden Mobilitätssystemen“.

Bhutan berechnet das „Bruttonationalglück“

Fabian Schwan-Brandt, der im Präsidium des deutschen Club of Rome sitzt, hält noch etwas für wichtig. „Wir müssen lernen, in geschlossenen Kreisläufen zu wirtschaften“, sagt er. Und nimmt Elektroschrott als Beispiel. „In Handys stecken wertvolle Metalle. Sie und andere Elektrogeräte dürfen nicht auf der Müllkippe landen, sondern müssen recyclet werden.“ Die Mengen an Metallen und anderen Rohstoffen seien auf der Erde begrenzt.

Derweil hat das asiatische Land Bhutan einen eigenen Ansatz, um das Wohlbefinden seiner Bürger zu messen. Es berechnet das „Bruttonationalglück“. 33 Kriterien sind aus Sicht des kleinen Königreichs, in dem rund 670.000 Menschen leben, wichtig: Die Verschmutzung der Gewässer und der Luft, aber auch das Vertrauen zu den Nachbarn oder das Material des Hausdachs. Bhutans Ziel ist, so sieht es auch das deutsche Auswärtige Amt, „das Wohlbefinden der Bürger zu maximieren“. Mit dem BIP kann Bhutan übrigens nicht prahlen: Es gehört zu den ärmsten Entwicklungsländern der Welt.