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Waage zwischen Kommerz und Fankultur verliert Gleichgewicht

Waage zwischen Kommerz und Fankultur verliert Gleichgewicht

Wie „erlebbar“ ist die „Marke BVB“ (Carsten Cramer) für die Fans, die sich schwer tun, ihren Verein überhaupt als „Marke“ zu betrachten? Überdreht Borussia Dortmund beim Marketing? Vorübergehend oder nicht — ein Publikumswechsel ist allemal zu verzeichnen, schreibt Fan-Kolumnist Rutger Koch.

Dortmund. 

In Dortmund Fußball zu schauen, wird in diesen Tagen immer mehr zu einem Wechselbad der Gefühle. Nicht nur, weil die nächste Verletzung beim BVB so sicher scheint, wie das Amen in der Dreifaltigkeitskirche und man sich jeden Tag aufs Neue fragt, wen es wohl noch erwischt – auch weil man als Fan in Dortmund im Moment die Auswirkungen der totalen Kommerzialisierung des Fußballsports deutlicher und rasant schneller wahrnehmen kann, als das bisher der Fall war.

In der einen Sekunde vermag das Geschehen auf dem Rasen gewohnte Glücksgefühle auszulösen, in der nächsten sind wieder zwei blondierte Mädels im Weg, die sich gegenseitig mit ihren iPhones filmen, während der Wochenendausflügler mit den zwei prall gefüllten Fanshop-Tüten hinter einem fragt, wer denn bitte der Spieler mit der Nummer Soundso sei. Dieser gemeine Stadiontourist kennt ebenso wenig die Lieder, die ich für den BVB singen möchte, wie er die Abseitsregel kennt. Früher bin ich bei den meisten Toren für Schwarzgelb schlichtweg ausgerastet, wie alle um mich herum – heute komme ich mir manchmal fast schon blöd vor, wenn ich zu laut jubele.

Publikumswechsel hat die Stehplätze erreicht

Innerhalb kürzester Zeit hat sich die Geschwindigkeit des Publikumswechsels im Westfalenstadion – sorry: im Signal Iduna Park – potenziert und auch endgültig absolut merklich die Stehplätze erreicht. Kannte ich noch vor einem oder zwei Jahren nahezu jedes Gesicht um mich herum, sind jetzt meine noch ständig anwesenden „Stadionfreunde“ offensichtlich auf einige Handvoll zusammengeschrumpft.

Warum ist das so? Sind viele von ihnen erfolgsverwöhnte Rosinenpicker geworden und verkloppen ihre Tickets, wenn nicht grade die BUYern oder das Blaukraut an der Strobelalle gastieren? Oder setzt sich einfach die Art von Kunde durch, für den Carsten Cramer „die Marke BVB erlebbar“ macht? Ist das die natürliche Folge der fortschreitenden Kommerzialisierung? Sind es die stetig steigenden Ticketpreise? Oder die hohen Preise drum herum? Oder ist es die viel zitierte Gentrifizierung der Stadien, die deren „Ureinwohner“ in einem schleichenden Prozess verdrängt? Die Antwort muss wohl lauten: von allem etwas.

Gelegenheitsbesucher verdrängen langjährige Stadiongänger

Fakt ist zumindest: Immer mehr langjährige Stadiongänger treffe ich immer sporadischer im Block an. Ihren Platz nehmen Gelegenheitsbesucher und Stadion-Neulinge ein. Ich will hier nicht falsch verstanden werden: Das sind absolut überwiegend nette Menschen, die sich genauso über ihren Besuch auf der Südtribüne freuen, wie ich das jedes Mal tue. Und jeder hat mal angefangen, ins Stadion zu gehen.

Es geht hier auch nicht um eine „besserfan-Schlechterfan“-Geschichte. Jede(r) ist gleich gut! Außerdem befürworte ich ausdrücklich, dass der Frauenanteil weiter steigt und finde es auch gar nicht schlecht, dass immer mehr Familien am Wochenende zusammen zum Fußball fahren, anstatt in den Zoo.

Allerdings komme ich nicht umher festzustellen, dass die unvergleichliche Fußballstimmung, in die ich mich als Junge in den Achtziger Jahren verliebt habe, mittlerweile an immer mehr Spieltagen einer diffusen Jahrmarktstimmung gewichen ist. Das war früher schon mal so und wurde zwischenzeitlich wieder besser. Das kann sich also auch jetzt wieder ändern und ist ohnehin nicht von Spiel zu Spiel gleich, macht mir allerdings Sorgen, weil Borussia selbst diesen Publikumswechsel aktiv begünstigt und beschleunigt.

BVB richtet sich auf neue Kunden aus 

Der BVB richtet jedenfalls einen Löwenanteil seiner Unternehmensstrategie auf diese Art von neuen Kunden aus: Er erklärt in Slogans, was früher unausgesprochenes Gemeinschaftsgefühl war, er sucht nach neuen Kunden und Käuferschichten im europäischen Ausland und in Fernost. Er baut einen reinen Kommerztempel neben das Stadion, anstatt sich mit der Errichtung eines Fanhauses verstärkt seiner sozialen Verantwortung zu widmen und fabuliert dann noch vom „Epizentrum für Fanangelegenheiten“ und der perfekten „Schnittstelle“ zwischen sich und den Fans (Carsten Cramer).

Ich bin – wie wohl die Allermeisten – mit der Leistung der sportlichen Leitung seit vielen Jahren über alle Maßen zufrieden und auch der Job, den Watzke oder Treß machen, nötigt mir nicht nur Respekt, sondern auch große Dankbarkeit ab. Dass Carsten Cramer sein Handwerk versteht, darf ebenfalls als erwiesen angesehen werden. Außerdem bin ich kein Träumer und auch kein beinharter Idealist. Mir ist durchaus klar, dass erfolgreicher Profifußball nur mit einem gehörigen Maß an Kommerz überhaupt möglich ist. Noch 2011 und 2012 habe ich mich mehrfach sagen hören, dass ich der Meinung sei, dem BVB gelinge der Spagat zwischen Kommerz und Basisnähe eigentlich ganz gut. Doch mittlerweile scheint mir das Rad, an dem Cramer und Co. drehen, allmählich überdreht.

Maßlos, was das Einnehmen von Geld angeht

Nach den erfolgreichen Neunziger Jahren wurde man maßlos, was das Geld ausgeben angeht. Wird man jetzt maßlos, was das Geld einnehmen angeht? Früher investierte man Millionen in „Steine und Beine“, zahlte auch für austauschbare Durchschnittskicker lächerliche Mondgehälter und verfügte dabei noch nicht einmal über ein eigenes Trainingsgelände. Die aktuelle Führung geht im Vergleich tausend Mal besser mit dem neuerlichen Erfolg um, verschuldet sich nicht im aussichtslosen Finanzwettstreit mit den Freistaatkickern, sondern entschuldet sich immer mehr (bald wohl komplett), indem sie von Jahr zu Jahr mehr Kohle aus Sponsoren und Investoren (vulgo: strategischen Partnern) presst und darüber hinaus jeden Stein nach (zugegeben: nachhaltigen!) Einnahmequellen umdreht.

In einer Gesellschaft, die so durch und durch neoliberal orientiert ist, wie die unsere, könnte man eigentlich ein uneingeschränktes Lob aussprechen. Dürfte man meinetwegen auch, handelte es sich um eine einfache Firma. Nur ist Borussia eben für die Menschen, die den Club letztendlich zu etwas Besonderem machen – für die treue Fanbasis – mehr als nur ein Unternehmen in der Unterhaltungsbranche.

Den richtigen Mittelweg finden

Jürgen Klopp hat noch nach dem diesjährigen Pokalfinale gesagt, Borussia müsse immer „anders“ bleiben, selbst Chef-Markenverweser Cramer spricht davon, dass „Borussia immer Borussia“ bleiben müsse, dass man den richtigen Mittelweg finden müsse, damit sich alles die Waage halte.

Herr Cramer, die Waage verliert allmählich das Gleichgewicht!

15.09.2014, Rutger Koch, Gib mich DIE KIRSCHE