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Zechen-Nostalgie im Revier ist ein „menschliches Bedürfnis“

Zechen-Nostalgie im Revier ist ein „menschliches Bedürfnis“

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Ulrich Borsdorf hat das Ruhr-Museum mitbegründet und arbeitet seit seiner Pensionierung als Berater kleinerer Museen. Foto: Archiv/Funke Foto Services/Knut Vahlensieck
Lebt das Ruhrgebiet zu sehr im Gestern? Nein, meint Ruhrmuseums-Gründer Ulrich Borsdorf: „Geschichtskultur ist ein menschliches Bedürfnis.“

Ruhrgebiet. 

Im Ruhrgebiet verliert man sich gern in Bergbau-Nostalgie. Schadet das der Entwicklung unserer Region für die Zukunft? Ein Gespräch mit Ulrich Borsdorf über Abriss-Wahn, Identität und den Minderwertigkeits-Komplex des Ruhrgebiets.

Leben wir im Ruhrgebiet zu sehr in der Vergangenheit?

Ulrich Borsdorf: „Zu sehr“ ist ein schwieriger Begriff – wir können die Gedanken an die Vergangenheit nicht abstellen. Geschichtskultur wird ja nicht nur von Museen betrieben, sondern ist eine natürliche Volksbewegung. Ein menschliches Bedürfnis. Wenn Sie gefragt werden, wer Sie sind, erklären Sie das mit vergangenheitsbezogenen Dingen. Anders kann man sich seiner Identität nicht bewusst werden. Als Einzelner genausowenig wie als Gruppe. Allerdings kann man sich gut oder schlecht über seine Vergangenheit definieren: Wenn man unter Geschichte versteht, sich in die gute, alte Zeit zu versenken, dann kann es passieren, dass man rückwärtsgewandt lebt. Nostalgische Gefühle verklären die Vergangenheit oft.

Aber Nostalgie – gerade das passiert im Ruhrgebiet doch so oft.

Borsdorf: Ja, das stimmt vielleicht. Trotzdem – es ist den Menschen ein Bedürfnis. Wer sich nicht mit der Vergangenheit befasst, findet nur schwer den richtigen Weg in die Zukunft. Aber um aus Erinnerungen ein Geschichtsbild zu formen, muss man eben kritisch damit umgegehen, nicht nur emotional. Nicht jede Erinnerung ist richtig. Oft wird die Vergangenheit erst schön, wenn man das Schlechte vergisst. Dadurch ist die Erinnerung nicht immer mit der Wirklichkeit identisch. Dessen muss man sich bewusst sein. Es hilft ja niemandem, die Vergangenheit zu verklären. Die Vergangenheit unserer Region beeinflusst unser Selbstverständnis – da muss die Geschichtskultur im Blick auf die Vergangenheit eine kritische Haltung zur Gegenwart einzunehmen. Das ist eine Aufgabe von Historikern und Museen.

Wie hilft uns das dabei, unsere Zukunft gestalten? Das Ruhrgebiet ist geprägt von der Erinnerung ans Alte. Unsere neuen Stärken scheinen in unseren Köpfen noch nicht angekommen zu sein. Die Erinnerungen scheinen die heutigen Stärken zu überlagern.

Borsdorf: Kann gut sein, aber Mentalitäten ändern sich in anderem Schrittmaß als der technische Fortschritt. Mentalitäten haben eine völlig andere Geschwindigkeit. Der Seelenhaushalt der Menschen wird langsamer aufgeräumt als andere Teile der Gesellschaft und Wirtschaft.

Also ist die Gegenwart weniger identitätsstiftend als die Vergangenheit?

Borsdorf: Nicht zwingend. Ich zum Beispiel identifiziere mich stark mit dem Ruhrgebiet – auch wegen Gegenwärtigem wie der Ruhrtriennale, dem Klavierfestival Ruhr oder der Ruhrfestspiele. Aber vor allem wegen Dingen, die es nur hier im Ruhrgebiet gibt. Orte aus der Vergangenheit, die wir zukunftsoffen entwickelt haben, wie Zollverein oder der Landschaftspark Nord in Duisburg. Das sind alles Orte, an denen man frei in alten Industrieanlagen herumlaufen und sie erleben kann. Dort ist man von Vergangenheit umgeben, aber es sind ganz moderne und attraktive Ort. Das finde ich typisch für das Ruhrgebiet.

Oder Minister Achenbach in Lünen, einem altern Zechenstandort, der heute das Technologie- und Gründerzentrum Lüntec beherbergt.

Borsdorf: Genau sowas! Auch auf Zollverein gibt’s Innovationen in Hülle und Fülle. Problematisch war viel eher die Phase Ende der 70er: Damals hat man besinnungslos alles Alte abgerissen. Natürlich kann man nicht alles retten und alles stehen lassen – dann würde die Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft überwuchern. Aber alles abzureißen halte ich für fahrlässig: Stattdessen muss man sich Gedanken darüber machen, wie man das Alte bewahren und trotzdem offen in die Zukunft gehen kann. Da waren die Internationale Bauausstellung Emscherpark 1998 und die Kulturhauptstadt 2010 ein guter Schritt nach vorne. Das war alles andere als nostalgisch und rückwärtsgewandt.

Das waren aber meist Veranstaltungen für Kulturinteressierte, nicht für die große Masse…

Borsdorf: Naja, die drei Millionen am langen Tisch auf der A40 – das war eine ziemlich die breite Masse. Oder das Ruhr-Museum, das im ersten Jahr eine halbe Millionen Besucher hatte. Das waren nicht nur Bildungsbürger, sondern weite Teile der Bevölkerung. Die Ruhrfestspiele sind ein schönes Beispiel dafür, wie man die Arbeiterschicht, die im Ruhrgebiet ja immer dünner wird, mit einem modernen Kulturgedanken verbinden kann.

Hat die Bergarbeiter-Geschichte auch unsere Mentalität verändert? Gerade wenn es ums Miteinander geht – unter Tage war man ja auf klare Sprache und die Hilfe anderer angewiesen.

Borsdorf: Ich empfinde das extrem so! Und viele Menschen, die zu Besuch im Ruhrgebiet sind, sagen mir beinahe klischeehaft immer das gleiche: Dass die Menschen (mehr oder weniger) ehrlich sind, sagen was sie denken, unheimlich freundlich und hilfsbereit, direkt und pragmatisch sind. Und viele fühlen, dass diese Bergarbeitersolidarität, die lebensnotwendig war, positiv auf die Gesellschaft abgefärbt hat.

Na, daran kann man sich doch wunderbar festhalten…

Borsdorf: Genau, und daran möchte ich auch gerne glauben! Vielleicht stimmt es ja nicht. Vielleicht muss man diesen Mythos noch stärker untersuchen. Genauso wie den, dass sich im Ruhrgebiet die Wellen der Migration reibungsloser bewältigen ließen. Der Ruhrbergbau ist ja eine Geschichte der Einwanderung, aus Schlesien, aus Südeuropa, aus anderen Teilen Deutschlands. Da scheinen die Probleme bedeutend geringer gewesen zu sein als in anderen Teilen Deutschlands. Auch das liegt vielleicht an der Arbeit unter Tage, und vielleicht auch an der Mentalität, die daraus entstanden ist.

So eine mentalitätsstiftende Vergangenheit grenzt andere Gruppen aus, gerade in multikulturellen Gesellschaften. Wie wichtig ist da Gegenwärtiges, das neue Gruppenidentitäten stiftet – wie etwa Fußball?

Borsdorf: Sehr wichtig. Man kann mental nicht immer in der Gegenwart leben. Allerdings sind Fußballfans in ganz extremer Weise Erinnerungsgemeinschaften – viele können aus dem Stegreif sagen, wer in einem legendären Spiel in den 70ern welches Tor geschossen hat und mit welchem Bein. Das sind alles Erinnerungsmythen und Fetzen von Tatsachen. Man muss abe r zwischen Erinnerung und Geschichte unterscheiden: Geschichte ist das disziplinierte Befassen mit der Vergangenheit nach Formeln und Regeln. Erinnerungen dagegen erlauben dem Einzelnen oder einem Erinnerungskollektiv, sich Vergangenes so zurechtzulegen, dass es passt – und auch mal Dinge wegzulassen. Das ist ganz menschlich, aber nicht immer gut. Museen und Erinnerungsgemeinschaften wie etwa BVB-Fans müssen diese Inkongruenzen aufdecken.

Welche anderen Erinnerungsgemeinschaften fallen Ihnen im Ruhrgebiet noch ein?

Borsdorf: Eigentlich ist jeder Verein eine Erinnerungsgemeinschaf. Und wenn das Vereinsleben nicht in Traditionalismus erstarrt ist, ist die identiätsstiftende Kraft sehr stark. Eine Kraft abseits staatlichen Handelns. Die Bürgerschaft Kupferdreh zum Beispiel, in der ich auch aktiv bin. Die gibt es seit 100 Jahren, aber im Moment ruht die Vereinarbeit, weil sich die Gruppe um Flüchtlinge kümmert. Das ist alles andere als rückwärtsgewandt und exklusiv, obwohl sich der Verein sehr an Traditionen orientiert. Außerdem teilen wir das Bewusstsein, dass wir das nur gemeinsam stemmen können – dafür braucht man eine Gemeinschaft.

Heißt das im Umkehrschluss: Wenn wir uns selbstbewusst an die Vergangenheit des Ruhrgebiets erinnern, macht uns das stärker?

Borsdorf: Ich finde ja. Mit einer Einschränkung: Der Vergangenheitsbezug darf nicht nostalgisch sein. Natürlich ist er das manchmal – und das ist auch in Ordnung. Aber für eine Gesellschaft wie die im Ruhrgebiet ist es lebensnotwendig, sich wissenschaftlich und aufklärerisch mit der Vergangenheit zu beschäftigen.

Was sind denn klassische Erinnerungsorte im Ruhrgebiet, also Dinge, die die Gemeinschaft als stellvertretend für die Vergangenheit empfindet?

Borsdorf: Das sind nicht immer topografische Orte wie Zechen oder Denkmäler. Ein Erinnerungsort kann auch eine Tradition sein – etwas, das die kollektive Erinnerung anregt. Das ist im Ruhrgebiet auch so etwas wie die Bierkultur. Oder Fußballstadien. Oder „Theo gegen den Rest der Welt“. Oder Sprache und regionale Begriffe. Oder die Erfahrung der Tiefe eines Bergbauschachtes: Das man im Ruhrgebiet Hunderte Meter unter Tage sein macht eine besondere Erfahrung, die man teilt und von der man sich gerne erzählt.

Ist Sprache auch ein Erinnerungsort?

Borsdorf: Ich denke schon, dass man mit der Ruhrgebietssprache und ihren Besonderheiten ein Erinnerungsort ist. Die Bequemlichmachung, die Sprachökonomie ist eine Gemeinsamkeit, die viele teilen.

…und die auch für Kabarett und Marketing taugt. Trotzdem gilt unser Dialekt als ungebildet, anders als Badisch oder Bayerisch. Ist der Minderwertigkeits-Komplex im Ruhrgebiet auch ein gemeinsamer Erinnerungsort?

Borsdorf: Das mit dem Minderwertigkeits-Komplex ist seit den 90ern vorbei, finde ich. Die Industriekultur und unser Umgang damit haben das Selbstbewusstsein und den Stolz der Ruhrgebietsbevölkerung massiv gehoben. Als ich in den 60ern ins Ruhrgebiet gezogen bin, war der Minderwertigkeitskomplex noch deutlich zu spüren. Aber in letzter Zeit merke ich davon kaum noch was. Im Gegenteil: Die Leute sind stolz darauf, aus dem Ruhrgebiet zu kommen, und das liegt unter anderem an diesen industriekulturellen Orten – an Vergangenem, das in die Gegenwart übertragen wurde und vorzeigbar ist.

Wenn wir in den 70ern weiter alles abgerissen hätten, wären wir also nicht so weit?

Borsdorf: Exakt! Das kann man in anderen Ländern Europas sehr gut sehen. Es gibt Regionen in Nachbarländern, die haben damit jetzt massive Probleme. Nordfrankreich oder Polen zum Beispiel. Der Umgang des Ruhrgebiets mit seiner Industrievergangenheit gilt international als vorbildlich – sogar weit außerhalb Europas. Dafür werden wir bewundert. Übrigens genauso für unseren Umgang mit der NS-Geschichte. Den mussten wir zwar erst lernen, aber das haben wir gründlich getan.