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So spielen die Amerikaner 150 Jahre später ihren Bürgerkrieg nach

So spielen Amerikaner 150 Jahre später den Bürgerkrieg nach

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150th Anniversary of the Battle of Gettysburg Foto: dpa
Zum 150. Mal jährt sich die folgenschwerste Schlacht im amerikanischen Bürgerkrieg: 50.000 Soldaten starben binnen drei Tagen auf den Feldern von Gettysburg, Pennsylvania. Ab 4. Juli, dem amerikanischen Nationalfeiertag, wird der Kampf zwischen Nord- und Südstaaten von rund 25.000 Laien-Akteuren wirklichkeitsnah nachgespielt. Hunderttausende werden zuschauen.

Gettyburg. 

Charlene Kerswill, deren Mann oben auf der Anhöhe mit den anderen Blauröcken im Unterholz lauert, wird um die Mittagszeit allmählich nervös. „Jeden Moment müsste der erste Schuss fallen“, sagt die Rentnerin aus New York und guckt auf die Uhr, „wie vor 150 Jahren auch.“ Gemeinsam mit zehntausend weiteren Zuschauern steht die 66-Jährige in drückender Hitze auf einem mit Absperrbändern markierten Acker mitten in Pennsylvania und wartet auf den Wendepunkt im amerikanischen Bürgerkrieg: „Pickett’s Charge“.

So heißt das historische Desaster am dritten Tag der Schlacht von Gettysburg, bei der am 3. Juli 1863 General Robert E. Lee Tausende seiner grauröckigen Südstaatler unter sengender Sonne gegen die Yankees aus dem Norden unter General George Meade anrennen ließ. Vergeblich. Am Ende war der Boden rot vom Blut des Südens und die endgültige Niederlage für die Konföderierten so gut wie besiegelt. Ein Trauma, dass in den südlichen Nischen der kollektiven Seele Amerikas bis heute nachwirkt.

1913 spielten Bürgerkriegsveteranen Gettysburg zum ersten Mal nach

1913 spielten echte Veteranen, zahnlos, ausgemergelt und auf Gehstöcken humpelnd, Gettysburg zum ersten Mal nach, um die seelischen Wunden des Krieges wie bei einer Familienaufstellung nach Hellinger zu heilen. Seither hat sich um die 8000 Einwohner zählende Kleinstadt, eine gute Autostunde nördlich von Washington gelegen, eine florierende Erinnerungsindustrie etabliert. Austellungen, Galerien voller Devotionalien, Andenkennippes-Läden und naturbelassene Scharmützel-Plätze in einem riesigen Freilichtmuseum ziehen jährlich über zwei Millionen Besucher an. Monumentale „Reenactments“, detailgetreu nachgestellte, gleichwohl friedlich inszenierte Gemetzel durch Hobbyschauspieler und Geschichtsenthusiasten, gelten unter Schlachtenbummlern als das Non-Plus-Ultra.

„Sie werden staunen“, sagt Charlene Kerswill plötzlich und stellt um Punkt 12.30 Uhr ihr Fernrohr scharf. Sekunden später zerreißt der erste Donnerhall der Kanonen die sonntägliche Stille. Auf der etwa 15 Fußballplätze großen Naturbühne sind die Streitparteien schnell ausgemacht. Von rechts rücken die verlotterten Südstaatler heran, stoßen ihren an Indianer-Geschrei erinnernden „Rebell Yell“ aus und laden die Karabiner durch. Fanfarenstöße klingen aus der Ferne. Irgendwer schlägt die Trommel. Im Feld hört man das Stakkato der Befehlsketten: „Feuern! Laden! Feuern!“

Am Anfang sieht es gut aus für die Südstaatler

Es sieht am Anfang gut aus für die Southerner. Der Süden macht Geländegewinn. Aus allen Rohren wird geschossen. Mit Platzpatronen. Auf den Zuschauerrängen klicken die Foto-Apparate. Mancher hält sich vor dem Krawumm der Geschütze die Ohren zu. Jim (58) aus Alabama, Bierbauch, Knickerbocker, weiße Strümpfe, Turnschuhe, feuert „seine Männer“ an: „Gebt Iinen die Hölle, den verdammten Yankees!“ Als wüsste er nicht, wie die Geschichte ausgeht.

Links auf den Hügeln nimmt das Bataillon aus dem Norden Formation an. 800 Meter Front aus Menschen und Bajonettspitzen. Das Dunkelblau ihrer Uniformen ist von dem der Dixie-Klos am Rande des für teures Geld von einem Bauern angemieteten Schlachtgeländes nicht zu unterscheiden. Charlene Kerswill stellt sich mit zitternden Beinen auf ihren Campingstuhl, um „ihren Mann und die letzte Offensive besser sehen zu können – immer wieder schön“.

Vier Stunden Schlacht in 90 Minuten nachgespielt

General Robert E. Lee schickte damals gut 6500 Fußsoldaten gegen alle Kriegsweisheit den Hügel hoch. Alle wurden niedergemäht. Das war der Wendepunkt des Krieges. Was in Wahrheit über vier Stunden dauerte, ist in der Nachspielzeit in 90 Minuten vorbei. Generalprobe gelungen. Tosender Applaus. Rot vor Hitzestau trotten die Verlierer in ihren dicken Wollkleidern zurück in ihre Zeltlager in den angrenzenden Wäldern. Bei 36 Grad im Schatten will niemand länger als nötig als „Leiche“ im Gras liegen. Wer macht so was – und warum?

Gut 20.000 Laiendarsteller werden es diesmal sein, die rund um den amerikanischen Unabhängigkeitstag am 4. Juli ihre angestammten Identitäten als Staatsanwälte, Versicherungsmakler, Lehrer, Barkeeper oder Stahlarbeiter zurücklassen. Mit Kanonen, Musketen und nach Originalschnittmustern gefertigten Uniformen auf der Pickup-Ladefläche ihrer Chevys und Toyotas fahren sie stattdessen nach Gettysburg und spielen mit heiligem Ernst Krieg.

Notarzt kümmert sich um ermattete Kombattanten mit Sonnenstich

Einer davon ist Jeff Biggee. Der 51-jährige Zahnarzt mit dem Sechstagebart hat seinen Sohn Carl im Schlepptau. Die beiden Nordstaatler lieben „Living History“, lebendige Geschichte. „Abtauchen in ein anderes Jahrhundert, das ist großartig“, sagt der 23-Jährige und fotografiert die Verwundeten, deren Kunstblut in der Sonne wie dünne Tomatensoße aussieht, mit der Handy-Kamera. Sein Vater wird wie so viele, die man fragt vor der großen nationalen Fest- und Gedächtnisveranstaltung, grundsätzlicher: „Ich ehre damit das Andenken an meine Vorfahren, die in dieser dreitägigen Schlacht ihr Leben ließen.“ Immerhin: 160.000 Soldaten standen sich hier 1863 gegenüber. Nur 110 .000 kamen wieder nach Hause.

Im 21. Jahrhundert wird in Gettysburg nicht mehr gestorben. Nur zweimal muss bei der Uraufführung der Notarztwagen aufs Feld rollen und ermattete Kombattanten auflesen. Sonnenstich. Zu wenig Wasser getrunken. Das Gros der Kriegsschauspieler macht sich unterdessen für den Abend frisch, wenn sich im Festzelt die Frontlinien zwischen Nord und Süd in Wohlgefallen auflösen. Charlene Kerswill beneidet ihren Mann. „Unter Sternen schlafen und zum Frühstück Schwartenspeck auf dem Bajonett rösten, das muss herrlich sein!“ 2014 will die pensionierte Krankenschwester wiederkommen und zusehen, wie beim „Pickett’s Charge“ Geschichte gemacht wird. Warum? Sie zitiert William Faulkner, den wortmächtigen Schriftsteller des Südens. „Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht mal vergangen.“