Veröffentlicht inPolitik

NRW-Ministerin regt Geschlechtertrennung an Schulen an

NRW-Ministerin regt Geschlechtertrennung an Schulen an

43319413--656x240.jpg
Man diskutiert wieder über Geschlechtertrennung in den Schulen. NRW-Schulministerin Löhrmann schlägt vor, in einigen Fächern Jungen und Mädchen wieder getrennt zu unterrichten. Das soll Benachteiligungen beheben. Manche Experten sind skeptisch.

Düsseldorf. 

NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) hat mit dem Vorschlag, Jungen und Mädchen in einzelnen Schulfächern getrennt zu unterrichten, eine heftige Debatte ausgelöst. Löhrmann will mit dem getrennten Unterricht geschlechtsspezifische Benachteiligungen vermeiden. Sie verwies auf Studien, die zeigten, dass sich Mädchen in naturwissenschaftlichen Fächern besser in getrennten Gruppen entwickelten als in gemischten Klassen. Im Ge­genzug profitierten Jungen etwa von der Leseförderung in getrennten Gruppen.

Die Reaktionen von Betroffenen und Experten auf den Vorschlag sind extrem unterschiedlich. Wenig Zustimmung gibt es von Lehrern aus der Region. Die Tendenz bei den meisten Befragten: Ja, es gibt tendenziell Benachteiligungen für beide Geschlechter in verschiedenen Fächern. Aber diese kann und sollte man heutzutage auch im gemeinsamen Unterricht beheben.

„Ein bisschen gleichberechtigt gibt es nicht“

Leo van Treeck, leitender Gesamtschulrektor der Erich Kästner-Gesamtschule in Essen, wird deutlich: „Ein bisschen schwanger gibt es nicht. Und ein bisschen gleichberechtigt auch nicht. Mit getrenntem Unterricht gehen wir 50 Jahre zurück. Tendenzielle Nachteile muss man anders auffangen. Das geht auch.“

Bettina Heil, Koordinatorin der Mint-Fächer am Bertha-von-Suttner-Gymnasium Oberhausen, glaubt auch nicht an Geschlechtertrennung als Lösung. Robert Paternoga, der Leiter der Mint-Organisation am Gymnasium Goetheschule in Essen, teilt ihre Überzeugung. Die Unterschiede seien pubertätsbedingt, daran ändere getrennter Unterricht nichts.

Die Landeselternschaft der Gym­nasien hingegen hat aufgrund positiver Erfahrungen an einzelnen Schulen wie an einem Gymnasium in Bonn, das sich von einem reinen Mädchen- zum gemischten Gymnasium entwickelte und dann doch zurückkehrte zum getrennten Unterricht, nichts gegen Löhrmanns Anregung. Es sollte aber keine allgemeine Weisung sein, sondern ein Angebot für Schulen, so Katharina Kols-Teichmann, Geschäftsführerin der Landeselternschaft.

Bisher zwölf reine Jungenschulen in NRW 

Vollständig getrennte Jungen- und Mädchenschulen sind in NRW die große Ausnahme. Von den 6500 allgemeinbildenden Schulen sind nur zwölf reine Jungen- und 29 reine Mädchenschulen. Insgesamt besuchen von den knapp 2,8 Millionen Schülern in NRW rund 22 500 eine reine Jungen- oder Mädchenschule.

Ministerin Löhrmann schlägt zeitweise getrennte Gruppen mit verschiedenen Aufgabenstellungen innerhalb der Klassen vor. Zwar sei der gemeinsame Unterricht ein wichtiger Beitrag zur Emanzipation der Frauen. Mit teilweise getrennten Gruppen könne jetzt aber eine neue Tradition der Emanzipation begründet werden. So könnten bei der Arbeit mit dem Computer unterschiedliche Aufgaben bearbeitet werden, die den Interessen von Jungen und Mädchen gerecht würden, argumentierte Löhrmann.

Ist es sinnvoll, Jungen und Mädchen in manchen Fächern zu trennen, damit sie besser lernen können? Professor Ingelore Mammes von der Universität Duisburg-Essen forscht zur Geschlechterrolle in der Bildung, zum Teil gefördert vom Verein Deutscher Ingenieure. Sie steht der Trennung eher skeptisch gegenüber, obwohl sie sieht, dass es unterschiedliche Lernansätze geben muss. „Ich halte interessengesteuerte Arbeitsgruppen in der Klasse für sinnvoller. Wenn Kinder nach Themen aufgeteilt werden statt nach Geschlecht.“ Sonst sei die Gefahr groß, Geschlechtsstereotypen wie „Technik ist für Jungs“ noch zu verstärken.

„Sie vergessen, dass sie Mädchen sind“

In manchen Fächern könne getrennter Unterricht motivierend auf das Geschlecht wirken, das sich von dem Fach sonst nicht so angesprochen fühle, räumt Ursula Kessels, Professorin für Pädagogische Psychologie an der Universität Köln ein. So habe eine Studie in der achten Klasse gezeigt, dass sich Mädchen für Physik in gleichgeschlechtlichen Gruppen eher begeistern könnten. „Sie ‚vergessen’ sozusagen, dass sie Mädchen sind und stellen fest, dass das ‚Jungenfach’ Physik auch zu ihnen passt.“

Allerdings müsse man aufpassen, dass die Differenzen durch getrennten Unterricht nicht verstärkt werden. Kessels hält nichts davon, etwa das Fach Chemie den Schülerinnen ausgerechnet über Kosmetik näherzubringen, wie es Schulministerin Löhrmann anregt. Dadurch würden die Geschlechterstereotype nur noch mehr verfestigt.

Frauen sollten Mädchen unterrichten, Männer die Jungen 

Der Königsweg wäre es laut Kessels ohnehin, Fächer von ihren geschlechtsspezifischen Etiketten zu befreien. Das könne mit Themen gelingen, die Mädchen und Jungen gleichermaßen interessieren. „Und davon gibt es jede Menge, denn die Unterschiede sind gar nicht so groß“, betont die Forscherin. Wenn der Physik-Lehrer etwa das Prinzip der Pumpe mit Hilfe des menschlichen Blutkreislaufs erkläre, könne er Schülerinnen und Schüler gleichermaßen packen.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der Philologenverband begrüßen den Vorstoß von NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann. „Davon würden beide Geschlechter profitieren“, sagt Maike Finnern, Vize-Vorsitzende der GEW NRW. Zudem erhofft sie sich eine positive Wirkung auf „Sorgenkinder“ in den Klassen. Das seien oft Jungs, die sich in Gegenwart der Mädchen ständig profilieren müssten und dadurch stark abgelenkt seien.

Genug Lehrer, um Trennung umzusetzen

Auch Philologensprecher Peter Silbernagel sieht Vorteile vor allem während der Pubertät. Die Lehrer müssten aber in Fortbildungen darauf vorbereitet werden. „Die Jungen sind in dieser Phase häufig dominanter im Unterricht. Dadurch könnten sich Mädchen eingeschüchtert fühlen.“ Auch habe sich gezeigt, dass sich in reinen Mädchenschulen mehr Schülerinnen für Leistungskurse wie Physik und Informatik entscheiden.

Dass die Schulen mit der Umsetzung des getrennten Unterrichts überfordert sein könnten, fürchtet Silbernagel nicht. Durch den doppelten Abiturjahrgang seien an den Gymnasien in NRW auf einen Schlag rund 2000 Lehrerstellen zu viel. „Diese Chance könnte man gut nutzen, um den gleichgeschlechtlichen Unterricht zu erproben.“ Allerdings müssten die Lehrer in Fortbildungen darauf vorbereitet werden, fordert der Verbandschef.

Lehrergewerkschaften sind uneins 

Finnern schlägt vor, Mädchen und Jungen innerhalb einer Jahrgangsstufe zu trennen. Dann müssten auch keine zusätzlichen Lehrer eingestellt werden. Zudem sollten die Mädchen von Lehrerinnen, die Jungen von Lehrern unterrichtet werden. „Nur so ist der gewünschte Effekt gewährleistet. Denn auch Lehrerinnen und Lehrer arbeiten unterschiedlich.“

Reine Mädchen- und Jungenschulen lehnt Finnern dagegen ab. „Das wäre falsch. Schulen haben auch die Aufgabe, die Geschlechter auf einen normalen Umgang miteinander vorzubereiten.“ Udo Beckmann, Chef des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), meint geschlechtsspezifische Zugänge im gemeinsamen Unterricht seien besser.

Und Johannes Papst, Vorsitzender der Landeselternschaft der Realschulen, hält Lehrer „auch ohne ministerielle Anweisung“ für fähig, solche Benachteiligungen im gemeinsamen Unterricht zu beheben. Zumal es zur Zeit wirklich ganz andere, wichtigere Baustellen in den Schulen gebe. Zum Beispiel die Einführung der Sekundarschule.

Modellversuch in Oberhausen

Ende der 80er Jahre hatte eine Studie der Uni Dortmund für Aufsehen gesorgt, die feststellte, dass sehr viele Naturwissenschaftsstudentinnen von Mädchenschulen kamen. Es begann eine Debatte über getrennten Unterricht. Es folgten viele Studien, die für und gegen Geschlechtertrennung sprachen.

Das Sophie-Scholl-Gymnasium in Oberhausen hat selbst einen Modellversuch gestartet, begleitet von der Uni Duisburg. Seit vier Jahren wird in Klasse 8 und 9 Physik getrennt unterrichtet. Jetzt überlegt man, ob das Projekt fortgeführt werden soll. Die Zahl jener, die Physik in der Oberstufe wählen, hat sich laut Schulleiter Harald Willert „nicht signifikant“ verändert. Aber das Fach werde von Jungen und Mädchen „angenehmer empfunden.“ Die wissenschaftliche Auswertung steht noch aus.