Veröffentlicht inPolitik

Die Katastrophe von Tschernobyl

Heute jährt sich die Katastrophe von Tschernobyl

Eigentlich sollte ein Notfall nur simuliert werden. Aber das Experiment im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl in der Nacht zum 26. April 1986 löste den größten anzunehmenden Unfall aus.

Tschernobyl. 

Es ist der Wind, der die Menschen aus der Ahnungslosigkeit reißt. Am 28. April 1986, zwei Tage nach dem Unfall, schlagen Geigerzähler am schwedischen Atomkraftwerk Forsmark aus. Die Messtrupps sind ratlos, denn innerhalb der Anlage läuft der Betrieb störungsfrei. Auch in Finnland war am Tag zuvor erhöhte Radioaktivität gemessen. Es ist der Wind, der eine radioaktive Wolke über Skandinavien getrieben hat. Experten verfolgen die Spur zurück, bis hin zum Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl im Norden der Ukraine. Er brennt.

Tschernobyl, die stolze Kraftzentrale. In den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 ist hier ein Belastungstest im Reaktorblock 4 angesetzt. Überprüft werden soll, ob die Turbinen bei einem kompletten Stromausfall im Kraftwerk noch genügend Strom liefern können, um die Notkühlung des Reaktors zu gewährleisten. Unter realistischen Bedingungen soll das stattfinden. Dafür wurde der Reaktor quasi schutzlos gemacht: Das Notprogramm „Havarieschutz“ wurde abgeschaltet. Sicherheitseinrichtungen wie die Notkühlung oder das Einfahren der Bremsstäbe sind deaktiviert. Der Beginn des Tests hatte sich verschoben, nun übernimmt die Nachtschicht des 26. April. Sie ist unvorbereitet.

Das Team simuliert den Totalausfall der Stromversorgung. Das Experiment geht schief: Technische Pannen treten auf, hinzu kommen Bedienfehler. Die Notabschaltung erfolgt nicht, plötzlich und unerwartet kommt es zu einem Leistungsanstieg. Denn der Tschernobyl-Reaktor vom Typ RBMK, ein Siedewasser-Druckröhrenreaktor, hat einen gravierenden Konstruktionsfehler: Die Einfahrgeschwindigkeit der Bremsstäbe ist viel zu niedrig, deutlich langsamer als in westlichen Kernkraftwerken. Das Graphit am Ende der Brennstäbe beschleunigt die Kettenreaktion nur noch. Der Reaktor gerät außer Kontrolle, die Katastrophe nimmt ihren Anfang.

Der Reaktor brennt zehn Tage lang

Um 1:23 Uhr erschüttert die erste gewaltige Explosion die Kraftzentrale. Im Reaktorbehälter haben Wasserstoff und Sauerstoff ein Knallgasgemisch gebildet. Die Explosion sprengt die fast 1000 Tonnen schwere Betondecke des Reaktorblocks in die Luft. Radioaktiver Staub wird mehrere Kilometer hoch in die Atmosphäre geschleudert. Das glühende Graphit fängt Feuer. Graphit ist Kohlenstoff in Reinform. Tschernobyl brennt zehn Tage lang. Es ist der Super-GAU.

Die meiste Radioaktivität entweicht in den ersten Tagen. Hubschrauber werfen Sand und Wasser auf den glühenden Reaktor. Die Explosion aber hat über 100 radioaktive Elemente freigesetzt. Die meisten von ihnen zerfallen innerhalb weniger Stunden. Doch die gefährlichsten – Jod, Strontium 90 und Cäsium 137 – werden in Wolken fortgetragen. Etwa 150 000 Quadratkilometer in Weißrussland, Russland und der Ukraine werden verseucht. Am Ende wird man die Isotope in 40 Prozent des europäischen Kontinents nachweisen. Auch Süddeutschland ist betroffen.

Die Welt jenseits des Eisernen Vorhangs aber ahnt zunächst nichts. Die Menschen in der DDR lesen auf Seite fünf der Zeitung „Neues Deutschland“ eine knapp gefasste Meldung der sowjetischen Nachrichtenagentur Tass. Sie lautet: „Im Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine hat sich eine Havarie ereignet. Einer der Kernreaktoren wurde beschädigt. Es werden Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen der Havarie ergriffen. Den Betroffenen wird Hilfe erwiesen. Es wurde eine Regierungskommission eingesetzt.“ Einen Tag später spricht die UdSSR erstmals von einer „Katastrophe“ und zwei Todesopfern.

Trümmerteile vom Dach geschaufelt

Moskau entsendet Hunderttausende Helfer, so genannte Liquidatoren – Soldaten, Studenten, Freiwillige. 600 000 sollen es gewesen sein, so Schätzungen. Die Aufräumarbeiter erhalten die höchsten Strahlendosen. In Minuteneinsätzen beseitigen sie kontaminierte Trümmerteile, die meisten von ihnen tragen nur unzureichende Schutzkleidung. Innerhalb von sechs Monaten bauen sie eine provisorische Schutzhülle um die Reaktorruine.

Wie viele Menschen starben oder sterben werden, ist bis heute umstritten. Es ist eine Glaubens- und Wissensfrage. Die Vereinten Nationen verweisen darauf, dass in der unmittelbaren Nähe des Reaktors von Tschernobyl rund 50 Menschen ums Leben kamen – durch herabstürzende Trümmerteile oder die Strahlung. Bei den Langzeitfolgen spricht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) heute von 9000 Todesfällen. Die Umweltorganisation Greenpeace indes bezieht sich auf regionale 50 Gutachten und Studien, kommt so auf allein 93 000 Krebstote.

Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW hat vor wenigen Tagen in Berlin noch dramatischere Zahlen genannt. Danach seien allein von den rund 600 000 Liquidatoren über 112 000 gestorben. Der Biostatistiker Hagen Scherb hat errechnet, dass wegen des Tschernobyl-Unglücks in Europa 800 000 weniger Kinder geboren wurden als eigentlich zu erwarten sei. Es spricht von der „Generation der verlorenen Geburten“.