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Mülheim lässt die Straßenbahn 110 ausrollen

Mülheim lässt die Straßenbahn 110 ausrollen

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Foto: Funke Foto Services
So voll wie am Samstagabend waren die Bahnen der Linie 110 nie: Mehrere Hundert Bahnfans nahmen Abschied von einem Stück Mülheimer Straßenbahn-Geschichte.

Mülheim. 

„Auf Wiedersehen 110“ seht auf dem gemalten Schild, das ein Junge am späten Samstagabend am Styrumer Bahnhof ins Scheinwerferlicht der Straßenbahn hält. Was der Kleine mit dieser Geste erhofft, wird so schnell nicht passieren. Gerade rollt der letzte Linienkurs ab Friesenstraße Richtung Stadtmitte und Hauptfriedhof. Danach sollen keine Straßenbahnen mehr den Styrumer Süden anfahren. Vorher machen rund 60 Tramfreude in der Wendeschleife mindestens 6000 Fotos vom nächtlichen Abschied der letzten 110.

Ferhat Isik beschleunigt Wagen 288 langsam. „Ich habe die Menschen gern nach Styrum gefahren und dort abgeholt. Schade, dass ab morgen keine Straßenbahn mehr zur Friesenstraße fährt“, sagt er. Die vielen Straßenbahnfreunde chauffiert er ruhig, erfüllt auch auf seiner letzten Fahrt durch den Styrumer Süden Fotowünsche. „Das gehört zum Service“, lächelt er freundlich.

Das mit dem Service sieht Markus von der Hauskampstraße völlig anders. Der junge Mann macht ab Stadtmitte die letzte Straßenbahnfahrt nach Hause. „An der Meißelstraße bin ich bis jetzt ausgestiegen. Nun muss ich viel länger zum Bus laufen und dazu noch früher abfahren, damit ich pünktlich zur Arbeit komme“, schimpft er auf die MVG. „In den letzten Wochen waren die Bahnen dazu noch unpünktlich oder kamen gar nicht.“

Bahn-Fan: „Ich bin erschrocken“

Yannik, Tramfreund aus Dortmund, macht seine Kamera am Stativ einsatzbereit. „Schmuddelig sehen die Wagen aus. Wie kann man einen Betrieb so herunterkommen lassen?“, fragt er. Der Styrumer Streckenast sei nicht wirtschaftlich. „Aber wer etwas verbessern will, der kann etwas ändern.“ Ein Ex-Styrumer Fan – wegen beruflicher Veränderung mit dem Nachtzug aus Stuttgart angereist – fügt an: „Ich bin erschrocken, wie lieblos die MVG mit Material und Kunden umgeht. Da helfen auch neue Wagen nicht mehr.“ Dafür fotografiert er die Oldtimer am Nachmittag auf seiner alten Hausstrecke und kehrt in seinem alten Stammlokal im Bahnhof ein.

Seit gestern brummen die Dieselbusse auf Gummireifen durch die Straßen. Sie stören kaum die Sonntagsruhe. Am Samstag zuvor steht Styrum dagegen im Fokus vieler Kameraojektive. „Was machen Sie alle hier? Was ist los?“, fragen Autofahrer in die Pulks der Filmer und Fotografen. „Zum Abschied der Straßenbahnlinie 110 fahren alte Trams. Davon machen wir auf der ganzen Strecke Bilder“, antwortet ein Fam mit niederländischem Akzent, blickt kurz auf, bevor er den Essener Zweiachser 888 in der Herbstsonne ablichtet. Eine Frau von der Heimaterde fotografiert am Styrumer Bahnhof: „Ich vertrete meinen Mann. Der muss zur Chorprobe.“

Ticket-Stempel dokumentieren die Mülheim-Visite

„Vestischer Wagen 144 auf blauer Brücke vor großer Kirche“ spricht ein Norddeutscher in seine laufende Videokamera. Der Fan steht mit 40 anderen an der Moritzstraße. Die Kirche heißt St. Maria Rosenkranz. Autofahrer müssen warten, bis alle Straßenbahnfotografen die Fahrbahn freimachen. Viele kaufen Fahrscheine, dokumentieren mit dem Stempel aus der Bahn ihre Mülheim-Visite. Ein Schweizer hat seine Dienstreise wegen der Stilllegung verlängert. Eine Gruppe aus Hessen schließt „mit diesem für den Nahverkehr traurigen Anlass“ ihre Straßenbahnwoche Ruhrgebiet ab.

Die letzte Straßenbahn ab Friesenstraße ist nicht Linienwagen 288, sondern der Vierachser 227, Baujahr 1954. Mitglieder der Verkehrshistorischen Arbeitsgemeinschaft wollen die Allerletzten auf der Strecke sein. Sie verlassen den Styrumer Bahnhof mit der Straßenbahn erst kurz vor Mitternacht. Wahre Bahnfans brauchen das.

Die Geschichte der Straßenbahnstrecken im Styrumer Süden von 1911 bis 2015 

Styrum hat jetzt nur noch eine Straßenbahnlinie. Die 112, davor 5/15, soll weiterhin über die ab 2018 neue Thyssenbrücke und die Oberhausener Straße in die Nachbarstadt fahren. Die Strecke der Linie 110, davor 13, 1, 16 und 18, ist seit Sonntagmorgen straßenbahnlos. Gleise werden noch lange in Haus- und Steinkampstraße zu sehen sein. Die Stadt hat kein Geld, sie auszubauen.

Die Strecke parallel zur Bahnstrecke wird am 13. März 1911 eröffnet. Das neue Empfangsgebäude des Bahnhofs Styrum ist gerade eröffnet. Die heute marode Thyssenbrücke mit Straßendamm, kleiner Brücke über die Gleise zur Friedrich-Wilhelms-Hütte sowie nach Broich und Saarn wird 1909 eingeweiht.

1910 fällt Entschluss zu neuer Strecke

Vorher erreichen die Bahnen über Siegfried- und Poststraße den Styrumer Bahnhof auf der Rückseite. Mit der Teilung der Gemeinde (Oberstyrum zu Mülheim, Unterstyrum zu Oberhausen) am 1. April 1910, fällt der Entschluss, die neue Strecke zu bauen, um den Süden des geschrumpften Stadtteils zu erschließen – wieder mit Anschluss über Heidestraße an Oberhausen.

Ab 12. September 1917 wächst der Bahnhof zum Umsteigeknoten. Die Strecke von Styrum über Raffenbergbrücke und Akazienallee bis kurz vor die Duisburger Straße geht in Betrieb. Aber nach 59 Jahren und einem Monat ist schon wieder Schluss. Am alten Depot an der Friesenstraße wird die Strecke mangels Fahrgästen und wegen des Ausbaus der heutigen A 40 gekappt. Am 22. Oktober 1966 fährt auch die 16 zum letzten Mal von Oberhausen-Holten über Styrum und Stadtmitte nach Saarn. Seit 49 Jahren endet die Reststrecke nicht im Wohnviertel, sondern auf der grünen Wiese.

Bei Mülheims Verkehrsbetrieben gibt es immer wieder Überlegungen zur Stilllegung der Linie 13 oder der 110. Als Oberhausen seine Straßenbahn 1996 von der Landwehr zur Neuen Mitte und nach Sterkrade wiederbelebt, will niemand eine zweite Gleisstrecke durch Styrum (Heidestraße) und ein städteverbindendes Netz aufbauen. Das hätte die Stilllegung am Wochenende wahrscheinlich blockiert.