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70 Jahre Kriegsende – „Wer Schokolade schenkt, kann nicht böse sein“

„Wer Schokolade schenkt, kann nicht böse sein“

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Foto: picture alliance / dpa
Flucht und Vertreibung, Befreiung und neue Hoffnung: Leser berichten, wie sie die Tage um den 8. Mai 1945 erlebten.

Brief: Am 8. Mai auf der Flucht aus Schlesien geboren

Essen. 

Für mich war es wirklich die „Stunde Null“, denn ich wurde am 8. Mai 1945 auf der Flucht in Sachsen geboren. Meine Mutter ist mit ihren Eltern und meinem Bruder von Schlesien kommend in Sachsen auf einem Bauernhof in einem Raum einquartiert worden. Unter schwierigen Umständen, mit Ausgangssperre am Abend, brachte meine Mutter mich, ein kleines Mädchen, zur Welt. Da der Krieg an diesem Tag zu Ende war, schlug meine Großmutter vor: Das Kind soll „BRINGFRIEDE“ heißen! Bringfriede Behmenburg, Bottrop

Brief: Wer Schokolade schenkt, kann nicht böse sein

Der 11. April 1945 war ein sonniger Frühlingstag. Kein Aufklärer am Himmel, kein Artillerie-Beschuss, auch keine Tiefflieger. Irgendwann tauchte ein Polizeioffizier bei uns auf. Er berichtete uns, dass überall die Amerikaner vorrückten. Und plötzlich waren sie da.

Zuerst nur ein Panzer, der sein Geschützrohr bedrohlich in unsere Straße richtete. Vorsichtig kamen sie aus ihrer Deckung, MP im Anschlag, marschierten sie die Straße herauf. Jetzt waren fast alle Bewohner unseres Viertels aus ihren Behausungen gekommen, oder lagen in den Fenstern. Als die Soldaten bis auf zehn, zwanzig Meter an unsere Gruppe herangekommen waren, blieben sie stehen, winkten uns zu und zeigten uns Schokolade. Wir Kinder gingen den Soldaten entgegen. Wir hatten schnell Vertrauen zu ihnen gefunden, denn wer Kindern Schokolade schenkt, konnte nach unserem Verständnis nicht böse sein.

KriegsendeDie Ernährungslage wurde täglich schlechter. Die Bauernhöfe in der Umgebung waren schnell abgegrast, also musste neues Terrain gesucht werden, wo noch was zu holen war. Das Gebiet Wesel-Hünxe war mit dem Zug von Oberhausen gut erreichbar. Scharen von Menschen aus Oberhausen, Duisburg, Bottrop, versuchten hier Essbares zu bekommen. Wir mussten uns also etwas überlegen. So kamen wir auf den Einfall zu erzählen, wir wären auf dem Heimweg aus dem Kinderlandverschickung. Das half. Fast überall bekamen wir ein Butterbrot, einen Teller Suppe, oder Gemüse.

Heute, im Abstand vieler Jahre, frage ich mich, nach welchen Moralbegriffen haben wir gehandelt? Ich denke, dass jene Umstände die Menschen zu Handlungen zwangen, die allein von dem Diktat geleitet waren: „Wie kann ich überleben“? Gerd Plasmeyer, Oberhausen

Da kommen Sie, die Russen! 

Brief: Da kommen sie, die Russen!

Zwar wurden wir aus Waldenburg/Schlesien vertrieben, aber sonst blieb uns viel Leid erspart. Am Morgen des 8. Mai 1945 ging ich zum Fleischer und stellte mich bei der langen Schlange an. Dann kam ein langer Zug deutscher Soldaten, müde und gar nicht mehr heldenhaft. Noch wusste ich nicht, dass dies ein Rückzug ist. Gegen Mittag ging ich zu einem Heeresverpflegungslager, das für die Bevölkerung geöffnet sein sollte. Ich nahm getrocknetes Rotkraut, Erbswurstsuppe und Getreide im Rucksack mit. Später rief mein Vater plötzlich: „Da kommen sie, die Russen!“ Panzer rollten in den Ort. Schnell die weißen Laken zum Fenster hinausgehängt. Wie schrecklich für mich: Wir durften uns doch nicht ergeben! Dafür war mein Bruder den Heldentod gestorben, dass wir uns feige ergeben? Ich weinte bitterlich.

KriegsendeAm Abend hörten wir im Radio die Kapitulationserklärung von Dönitz. Mein Vater meinte: „Gut, dass der Krieg vorbei ist, jetzt kommt mal eine Besatzungszeit, dann geht alles seinen gewohnten Gang.“ Am Abend sagte er noch: „Gnade uns Gott, wenn sich das rächt, was wir den Juden angetan haben.“ Ich war zu jung um nachzufragen, aber ich erklärte es mir später so: Mein Vater war Eisenbahner, möglicherweise hat er die schrecklichen Züge gesehen. Mein Vater verstarb 1947, so dass ich ihn nicht mehr fragen konnte. Ruth Bayer, Bad Laasphe

Brief: Mein Bruder blieb für immer verschollen

Meine Mutter, meine Schwester und ich (damals acht Jahre) wurden noch Ende 1944 nach Fehrbellin bei Berlin evakuiert. Anfang 1945 schrieb mein daheim gebliebener Vater, dass mein 16-jähriger Bruder eingezogen wurde und in einer Kaserne in Potsdam stationiert sei. Anfang März fuhren wir drei dorthin, um ihn zu besuchen. Ihm wurde nur eine kurze Besuchszeit genehmigt. Zu seinem 17. Geburtstag am 21. März wollten wir wiederkommen, uns dann gemeinsam auf den Weg nach Hause machen.

Dann war auch schon die russische Front zu hören. Als wir am 21. März wiederkamen, war die Kaserne leer, keiner konnte uns über den Verbleib Auskunft geben. Wir machten uns dann mit einem Leiterwagen allein zu Fuß auf den Weg nach Hause. In der ersten Nacht wurde im Wald übernachtet.

KriegsendeNach langen Tagen begegnete uns in einem Waldstück ein Schwarzamerikaner. Er war erfreut, nahm mich auf den Arm und gab meiner Mutter einen Fotoapparat und wollte ein Foto mit mir auf dem Arm machen lassen. Ich weinte vor Angst. Ich wusste gar nicht, dass es auch schwarze Menschen gab.
Wir kamen in ein Auffanglager bei Lauenburg. Ein Mann erzählte uns, dass er aus Buchenwald komme. Mein Mutter sagte, „Nie gehört, wo ist das denn?“ Er wurde wütend und meinte, dass dies alle sagten.
Ende Mai kamen wir zu Hause in Duisburg an. Es war ein Samstag oder Sonntag, mein Vater arbeitete im Garten. Er freute sich uns wiederzusehen. Bis dahin wussten wir nicht, dass der Krieg bereits zu Ende war. Von dem historischen Tag haben wir nichts mitbekommen. Von meinem Bruder haben wir trotz Nachforschungen nie wieder etwas gehört. Meine Mutter starb fünf Jahre später mit 42 Jahren. Hildegard Klotz, Duisburg

Mit Panzerfäusten gegen die Amerikaner 

Brief: Es war nicht mehr wie früher

Als die Bombenangriffe auf Gelsenkirchen immer heftiger wurden, fand ich mit meiner Mutter und Schwester zunächst Unterkunft im Harz. Mein Vater war Soldat. Das Haus, in dem wir wohnten, wurde schon bald von der deutschen Wehrmacht beschlagnahmt. Die weitere Evakuierung führte uns dann in die Nähe von Detmold.

KriegsendeDie amerikanischen Bodentruppen kamen immer näher. Um Ostern 1945 waren wir mitten im Kampfgebiet. Männer wurden zum Volkssturm zusammengeholt und sollten mit Panzerfäusten die Amerikaner aufhalten. Wir hielten uns jetzt meist im Keller auf. Das Kriegsgedröhn wurde lauter und heftiger. Fremde Männer kamen in den Keller – amerikanische Soldaten. Sie brüllten uns an. Ich habe nichts verstanden. Dann durchsuchten sie das Haus nach deutschen Soldaten.

Überall wurden weiße Bettlaken aus den Fenstern gehängt zum Zeichen der Kapitulation. Als die Amerikaner sicher waren, dass in der Nähe keine deutschen Soldaten waren, fingen sie an zu feiern. Sie fragten nach Militärabzeichen. Als Belohnung für ein Käppi bekamen wir Weißbrot aus der Dose oder etwas Süßes. Schließlich hörten wir, dass der Krieg zu Ende sei. Am Bürgermeisteramt erklärte ein Schild, dass nun die Amerikaner in der Ortsverwaltung für uns zuständig sind.

Es war nichts mehr wie früher, mein Vater ist 1944 als Soldat gefallen. Unsere Wohnung blieb uns erhalten, wir mussten sie aber vorübergehend mit zwei Ehepaaren teilen. Unser größter Wunsch war, „Nie wieder Krieg!“ Wir wollten kein Militär mehr, keine Soldaten. Leider nur ein Wunschtraum.Hans-Georg Popolisay, Gelsenkirchen

Brief: Auf dem offenen Güterzug nach Duisburg

Es war der 20. April 1945. Der Sonderzug der Eisenbahn setzte sich in Bewegung und fuhr mit uns von Bad Podiebrad in Böhmen Richtung Westen. Wir waren zwei Jahre mit der Hamborner Mittelschule in der Kinderlandverschickung gewesen und mussten die Region nun eilig verlassen. Der Krieg kam näher. Tiefflieger beschossen uns. Wir hatten große Angst. Dann hielt der Zug, wir gingen zu Fuß weiter. Mit etwas Handgepäck kamen wir in den Bayerischen Wald und wurden in Schulen untergebracht.

Anfang Mai erreichten die Amerikaner die Gegend. Unsere Lehrerin war sehr besorgt um uns Mädchen. Einzelne Mädchen versuchten nämlich ihr Englisch zu verbessern und suchten Kontakt mit amerikanischen Soldaten – und umgekehrt. Am 8. Mai hörten wir das Singen der Amerikaner. Sie feierten ihren Sieg. Auf einem offener Güterzug kamen wir schließlich nach Duisburg. Dort erfuhren wir, dass Mutter tot war. Jetzt stand unser Vater allein da, mit sechs Kindern. Ich war damals 15. Als einziges Mädchen in der Familie musste ich die Schule verlassen, um den Haushalt mit sieben Personen zu versorgen. Das Leben ging weiter, aber unsere Mutter fehlte. Alette Backhaus geb. Mittmann, Duisburg

„Hitlers Krieg zerstörte die Jugendzeit meiner Eltern“ 

Brief: Der russische Offizier bedankte sich fürs Essen

Meine Großeltern waren in den 30er- bis 50er-Jahren Pächter des zur Hattinger Henrichshütte gehörenden Hotels „Adler“ in der Henschelstraße. Während der letzten Jahre des Krieges mussten sie russische Kriegsgefangene, die auf der Hütte arbeiten mussten, in ihrem großen Saal „beherbergen“. Meine Oma hatte diese Kriegsgefangen heimlich durchgefüttert, weil diese mehr als schlecht versorgt wurden. Mein Vater schlich sich oft den Saal, spielte mit ihnen und lernte sogar ein paar Brocken russisch. Er erzählte mir oft Geschichten von Samu, seinem „Lieblingsrussen“.

Wochen nach Kriegsende sah er Samu wieder, er entpuppte sich als hoher russischer Offizier, der sich mit einem riesigen Fresspaket bei meiner Familie fürs Überleben seiner Leute bedankte. Heike Birkel, Hattingen

Brief: „Hitlers Krieg zerstörte die Jugendzeit meiner Eltern“

Meine Eltern lernten sich während des Zweiten Weltkriegs kennen. Mein Vater war Soldat bei der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde. Hier erprobte die Wehrmacht die Großrakete V2. Bereits im Januar 1945 wurde die HVA aufgelöst und mein Vater aus der Wehrmacht entlassen. Auf einem einsamen Bauernhof in Schleswig-Holstein wartete er von der SS unentdeckt auf das Kriegsende. Meine Mutter war in der Gaskraftzentrale des Hochofenwerks des Bochumer Vereins dienstverpflichtet: „Nach jedem Luftangriff mussten wir aus dem Bunker über Leichen klettern.“

Für meine Eltern war das Kriegsende eine Befreiung. Sie waren erleichtert, dass der nationalsozialistische Spitzel- und Unrechtsstaat endlich ein Ende hatte. Gehungert wurde immer noch, und da unsere Familie ausgebombt war, wohnten wir bis 1957 in sehr beengten Verhältnissen zur Untermiete.

Meine Eltern sagten immer, dass Hitlers verdammter Krieg ihre Jugendzeit zerstört hätte. Sie gaben sie mir den guten Rat: „Teile lieber mit deinem ärgsten Feind dein letztes Stück Brot, als dass es wieder zum Krieg kommt!“ Heinz Rittermeier, Bochum